Brief und Sigl: Love is not enough

Bitte freimachen, falls Marke zur Hand.

Alle zwei Wochen setzt sich Rainer Sigl an seine Tastatur und schreibt dir einen Brief. Ja, dir. Es geht um die großen, wichtigen, letzten Dinge: Sex, Tod, die Liebe, das Leben, den Sinn des Ganzen. Und um Videospiele. Große, kleine, teure, obskure, die Menschen, die sie machen, kritisieren, spielen und lieben. Kurzum: Es geht ans Eingemachte. „Brief und Sigl“ ist eine Depesche aus dem Ludoversum.

Liebe Leserin, lieber Leser,

Briefeschreiben ist schwer, besonders an jemanden, den man noch nicht besonders gut kennt. Einen persönlichen Brief, wenn auch elektronisch, schreibt und bekommt man nicht einfach so. Oftmals haben Empfänger*innen und Absender*innen etwas gemeinsam: Sie teilen Geschichte, sind Familienmitglieder, Freunde, sind einander in Liebe verbunden und teilen sich das in Form gewählter, wohlüberlegter Worte mit. 

Uns beide – obwohl wir uns nicht persönlich kennen – verbindet demnach ebenso etwas, und ich wage zu sagen: Es ist auch Liebe. Nicht die Liebe zueinander, sondern die Liebe zu Videospielen. Diese Liebe ist der Grund, warum du das hier liest. Sie ist der Grund, warum ich hier sitze, vor meinem PC, der Arbeits- und Spielgerät zugleich ist. Liebe hat mich hierher gebracht.

Zumindest habe ich das geglaubt. Bis ich noch einmal darüber nachdachte. Denn eigentlich fällt es mir immer schwerer, diese Liebe zu empfinden. Ja, ich weiß, das ist jetzt ein Scheißstart in einen Briefwechsel, in dem es irgendwie dann doch um Videospiele gehen soll. Aber es ist wahr. Liebe ich Videospiele noch? Ich weiß es nicht.

Gegenfrage: Liebst du Videospiele? Was bedeutet das eigentlich – Liebe gegenüber einem Medium? Geht das überhaupt? Ist das so wie Menschen lieben, oder das Theater, oder die See? „Gaming is not the most important thing in my life“, das hat der Polygon-Chefredakteur Ben Kuchera vor sieben Jahren in einem Artikel geschrieben, und dafür einen kleinen Shitstorm geerntet. Das kommt mir ein bisschen albern vor, denn ich weiß nicht, wie es dir geht, aber bei mir ist das genauso. 

Die Liebe, die viele Menschen Videospielen entgegenbringen, kommt mir übertrieben vor. „Fan“ kommt von Fanatismus, und wir wissen beide, dass es bei „Gamern“ zu viel davon gibt. All die starken Gefühle für eine bestimmte Konsole, für ein bestimmtes Spiel, für eine bestimmte Art, es richtig zu spielen. Mit dieser Leidenschaft kommen Eifersucht und Abgrenzung: Du spielst das falsch, dein Spiel ist kein richtiges Spiel – und bist du überhaupt ein Gamer?

In den letzten Jahren haben mich Menschen, die auf die Frage, ob sie Spiele lieben, ohne eine Sekunde des Zögerns mit „FUCK YEAH“ antworten, am meisten genervt. Wie sie ihr Medium eifersüchtig bewachen. Wie sie ihr Revier abstecken. Wie sie ihre Liebe verteidigen, gegenüber allem, was ihnen verdächtig vorkommt. Sie haben mich tatsächlich mehr genervt, als all die Leute außerhalb, die mit ihren uralten Vorurteilen gegenüber Spielen langsam in der Rente verschwinden. Ja, die Community, mit ihrem romantischen „Wir sind alle eine große Gamer-Familie“-Gehabe nervt. There, I said it.

Und auch manche Videospiele nerven, was völlig normal ist für ein Medium, das eine Bandbreite an Themen, Settings, Spielweisen, Genres, Ansprüchen, Technologien und Inhalten bereitstellt wie kein anderes. Der Hurra-Patriotismus und das Liebäugeln mit rechten Ideologien von Call of Duty nervt. Free-to-Play-Verarsche bei Handyspielen nervt. Elitarismus bei der „Git gud“-Soulsborne-Crowd nervt. Gamerkultur mit ihrem Abfeiern des ewigen Konsumismus nervt, PR-Overkill nervt, der dümmliche, immer noch vorhandene Sexismus nervt, kaputte Spiele nerven und dass Influencer für plumpe Schleichwerbung mit Millionen zugeschüttet werden, während Qualitätspublikationen zusperren, nervt auch. Dass es immer noch Alltag ist, dass irgendjemand Morddrohungen aus Gamerkreisen bekommt, nervt nicht nur, sondern ist eine verdammte Schande, die mir regelmäßig auf den Magen schlägt.

Nach all dem: Liebe ich Spiele? Die Frage kommt mir komisch vor. Liebe ich die Menschen, das Theater, die See? 

Ganz ehrlich? Liebe ist überbewertet, zumindest gegenüber Dingen. Passender als von Liebe sollte man vielleicht eher von einem bleibenden, heftigen, auch leidenschaftlichen Interesse reden. Ja, verdammt, Videospiele interessieren mich. Sie interessieren mich, seit ich 1988 das erste Mal einen C64 angeschaltet habe. Sie interessieren mich so sehr, dass ich noch heute weiß, dass der Cheatcode für das 1988er-Taito-Spiel The New Zealand Story „MOTHERFUCKENKIWIBASTARD“ lautet. So sehr, dass ich inzwischen wohl schon einen halben Metern an Büchern über Dark Souls & Co im Regal stehen habe, das ich seit Jahren eigentlich reduzieren statt weiter anfüllen will. Sie interessieren mich in dem Ausmaß, dass ich ziemlich sicher mein ganzes restliches Leben darüber reden, schreiben und nachdenken kann, ohne dass mir langweilig wird. 

Ist das Liebe? Ich glaube, es ist mehr als das. Es ist der Wille, sich etwas wirklich anzusehen. Ohne rosa Brille, ohne Vorurteile, aber mit Neugier und, ja, Interesse.

Hoffentlich ist es das, was uns verbindet. Denn ehrlich: Es geschehen die ganze Zeit verdammt interessante Dinge in der Welt der Videospiele. Um die soll es gehen in diesen Briefen. Die Frage nach der Liebe stellt sich dabei nicht unbedingt. Liebe ist nicht genug.

Wir lesen uns in zwei Wochen wieder, und wie es sich für einen Briefwechsel gehört, interessiert es mich auch, was du dazu zu sagen hast. Schreib gern zurück – entweder direkt hier oder im Forum. Bis dann!

Rainer Sigl

Schreibt und spricht seit 2005 (nicht nur) über Videospiele. Lebt in Wien.

PS: Verdammt, da schreibe ich all das und dann kommt sie bei nächster Gelegenheit, nach all der Abgeklärtheit doch schon wieder von ganz unten aus meinem Bauch herangeschlichen – die Liebe. Und zwar von ganz, ganz tief unten, denn am Early-Access-RPG Stoneshard hat mich schon damals, als es Anfang 2020 frisch in den Early Access gestartet ist, die Optik weit, weit in die Vergangenheit zurückgeschickt. 32-bit-Pixel-Liebe von oben, ein Open-World-Fantasy-Rogue-like mit Tiefgang, ein Spiel, das exakt so aussieht, wie ich mir vor Jahrzehnten meine Traumspiele vorgestellt habe, nur noch schöner – und dieses Spiel, das ich damals bei Erscheinen mit Interesse und Wohlwollen besprochen habe, bekommt just jetzt, wenn du diese Zeilen liest, ein mächtiges Update, das mich dazu bewegen wird, noch einmal in dieses Spiel zu starten, egal, ob ich dafür bezahlt werde oder nicht. 

Für mich hat das die Frage nach der Liebe dann doch irgendwie beantwortet: Vielleicht liebe ich nicht „Videospiele“ als Ganzes, aber in dieses eine bin ich – genau jetzt, wie so oft, und hoffentlich immer und immer wieder, und immer wieder von Neuem  – verknallt. Ich glaube, das ist genug.

14 Kommentare


Kommentare

  1. Avatar for Fabu Fabu says:

    Ich liebe dich, Rainer.

  2. Ich bin nicht so der Mensch, der sich mit den Personen hinter Texten beschäftigt. Deshalb haben mir die meisten Namen im Einführungspodcast nichts gesagt.

    Aber verdammt, Rainer Sigl - wenn deine Briefe auf dem Niveau bleiben, dann kann ich den nächsten Brief nicht abwarten.

  3. Avatar for Sidox Sidox says:

    Ich freu mich nach diesem Einstieg sehr auf die vielen Briefe, die hoffentlich noch kommen. Bis dahin wünsche ich dir ebenso viel Freude mit Stoneshard.

  4. Was für ein grandioser Newsletter-Auftakt :heavy_heart_exclamation:

    Freue mich so sehr, diese feinen Texte bald versiegelt zugestellt zu bekommen. Rainer ist mein erster Brieffreund… so toll. :heart_eyes:

  5. Avatar for Bene Bene says:

    Eine wirklich sagenhafte Email hat mich heute erreicht und ich hatte lange nicht mehr so viel Spaß beim lesen, wurde nachdenklich, habe innerlich genickt und war hinterher begeistert und freudig erregt, welch großartige Emails mich in Zukunft erwarten werden.
    Besonders interessant, wenn auch nur angerissen, war die kritische Auseinandersetzung mit einer stellenweise viel zu toxischen Community. Freue mich auf mehr

  6. kurze Frage: Wo abonniere ich den Newsletter denn genau? Ich bin über Patreon eingeloggt, kann auf wasted.de aber nur den ersten der beiden Briefe abonnieren. Passiert das automatisch? merci

  7. Herrlich, ich freue mich schon auf die nächsten Briefe. Wenn ich damals mal nur den Cheatcode von „New Zealand Story“ gekannt hätte …

  8. Avatar for Jagoda Jagoda says:

    Hallo Hallo Meise,

    wichtige Frage, danke!
    Derzeit: Jeder, der uns auf Patron abonniert, erhält den Newsletter derzeit automatisch.
    Das ist nicht ideal, denn möglicherweise gibt es verwirrte Menschen, die den Newsletter gar nicht haben möchten :exploding_head:

    Statt OPT-Out, bevorzugen wir natürlich OPT-IN, daher überlegen wir an einem System, wie wir möglichst einfach die Patreon-Mitgliedschaft UND die Subscription abfragen können.

    Bisher standen beim Development andere Themen im Vordergrund (wie dass die Seite stabil läuft und so ein Unfug, daher bekommt derzeit jeder, der Patron ist in welcher Höhe auch immer (bloß nicht verraten! :wink:) , garantiert den Newsletter. So lange veröffentlichen wir ihn auch auf der Seite.

    Fazit: Du hast alles richtig gemacht.

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