Der Kaktus steht auf Mexikos Nationalflagge, er wächst in der mexikanischen Wüste, liegt auf dem Teller und lauert in den Sprichwörtern. Das komplett verspaßte Forza Horizon 5 verspricht maximal Mexiko. Schon im Vorspann wird das mexikanische Ministerium für Kultur genannt. Im Kern dreht sich das Open-World-Arcaderennspiel aber nicht um schöne Aussichten, sondern um Spaß im Auto. Die Autos beherrschen diese Welt; sie können fast alles umfahren, 500 Meter weit springen, sich mehrfach überschlagen und weiterrasen. Einen Kaktus zu köpfen, zählt nicht einmal als Kollision. Stattdessen bringt es wertvolle Trickpunkte: „Kräschtus“.
Was wirklich passiert, wenn ein Auto gegen einen meterhohen Kaktus fährt, wusste ich vor Forza Horizon 5 nicht. Aber schon die ersten Videos machten mich stutzig. Das Spiel sieht zu fotorealistisch aus, um mit diesem Quatsch durchzukommen. Das Auto berührt den Kaktus kaum, da fällt er auch schon zuvorkommend in sich zusammen. Es wirkt wie ein Gag; als wären die zahlreichen Helfer*innen des Horizon-Festivals extra vorher durch die Wüste gezogen und hätten Kakteen vorgeschnitten.
Wer auf der Schnellstraße durch die Wüste heizt, der spürt eigentlich immer die Versuchung. Schleudernd vom Weg abzukommen und durch die Vegetation zu brettern, ist in dieser Welt kein Unfall. Es ist die Abkürzung zu einer großen Kombo; wer driftend den nächsten Kaktus umheizt, steigert den Multiplikator. Und wer innerhalb der Regensaison insgesamt 500 Kakteen fällt, der bekommt dafür ein Achievement und eine virtuelle Bomberjacke. Mein ungebremster Tourismus hat 105 Kakteen das Leben gekostet. Dann habe ich angehalten und bin für einen Realitätscheck ausgestiegen.
Du warst zumindest in den USA schon im Süden, in der Wüste. Da hast du bestimmt Kakteen wie den Saguaro, den Cardon und den Nopal gesehen?
Ulrich Haage: »Richtig, die kommen dort sehr häufig vor. Es gibt auch noch sehr viele kleine, aber die sind wahrscheinlich optisch weniger auffällig.«
Die sind im Spiel glaube ich eher Bodentexturen. Aber ich bin unsicher, wie ich die Großen unterscheide, ob ich einen Saguaro umgefahren habe, oder einen Cardon. Sind Saguaros diese Kandelaber-Kakteen?
»Das sind beide. Der Cardon ist ein bisschen mehr grün, der Saguaro ein bisschen mehr silbergrau. Aber da muss auch ich genau hingucken, und vom Auto aus ist das nicht sofort erkennbar. Das ist auch eine Frage für die Grafiker: Kennen die sich aus, oder haben die nur ein Foto genommen?«
Ich weiß immerhin, dass es Recherchereisen des Entwicklerstudios gab. … Wenn ich mir echte Bilder von Autounfällen mit Kakteen anschaue, sieht das schlimm aus. Im Spiel dagegen fliegt der Kaktus auseinander. Eigentlich sind so große Kakteen sehr massiv, oder?
»In den siebziger Jahren hat es einen Flugzeugunfall gegeben, wo jemand mit einer kleinen Cessna in einem Saguaro gelandet ist. Die Cessna ist stehen geblieben, die Tragflächen sind weggeflogen, der Kaktus ist auf die Pilotenkanzel gefallen und der Pilot war tot.«
Aber der Kaktus dann wahrscheinlich auch?
»Ne. Der ist abgebrochen, aber er wird wahrscheinlich weiterwachsen.«
Wie sicher stehen Kakteen denn im Boden?
»Ein Kaktus fängt ja als kleiner Sämling an, und die dünne Wurzel des Sämlings wird erstmal nicht viel dicker. Du kannst dir das vorstellen, wie einen spitzen Kegel, der im Boden steckt. Es gibt zwar auch das sekundäre Dickenwachstum, aber zuerst steckt er wie eine umgekehrte Pyramide im Boden. Bis die Pflanze merkt, dass sie etwas nachrüsten muss, dauert es lang. Aber dann stabilisiert sie sich damit, dass sie in die Zellen Holz einlagert. Und deswegen ist die Darstellung im Spiel doch ziemlich unrealistisch, denn am Boden steht im Prinzip ein Stamm. Du musst auch Bedenken, dass eine sehr große Pflanze bis zu 15 Tonnen wiegen kann. Das muss ja auch von etwas gehalten werden, von einem massiven Holzgerüst.«
Solche Giganten habe ich im Spiel eher nicht gesehen. Die sind wirklich baumhoch, oder?
»Genau. Wenn so ein Ding ins Wanken kommt, dann wächst kein Gras mehr.«
Und wenn ich mit dem Auto dagegen fahre, wäre das Auto kaputt, aber der Kaktus würde wahrscheinlich nicht umfallen, oder?
»Davon gehe ich aus. Die häufigsten Unfälle, die ich kenne, haben nur mittelbar mit Autos zu tun. In den 70er, 80er Jahren sind Jugendliche in Arizona mit Pumpguns in die Wüste gefahren, und haben als Mutprobe Wettschießen auf die Kakteen gemacht – bis der Kaktus umfällt. Da gab es tödliche Unfälle. Der Kaktus fällt natürlich in die Richtung, wo der Stamm dezimiert ist. Und das ist nun mal dort, wo das Schrot eintritt.«
Schon Urahn Friedrich Adolph Haage hat im frühen 19. Jahrhundert königliche Kakteensammlungen gepflegt. Im 21. Jahrhundert leitet sein Nachfahre Ulrich Haage in Erfurt die älteste Kakteenzucht der Welt. Als Kind durfte er in der Gärtnerei seiner Eltern spielen und weiß deswegen, dass der Sturz in ein Kakteenbeet „tatsächlich schmerzhaft“ sein kann. Heute füllt er den Laden mit neuem Leben, veranstaltet regelmäßig Kakteenessen und erzählt in seinem CactusPodcast über Kakteen und Sukkulenten.
Bis Kakteen so groß werden, dauert es vermutlich Jahrzehnte?
»Genau. Wenn so ein Ding ins Wanken kommt, dann wächst kein Gras mehr.« Zum Teil Jahrhunderte! Aber man muss differenzieren, vor allem der Saguaro ist extrem langsam. Der verzweigt sich das erste Mal nach 70 bis 100 Jahren. Auch die Reproduktion ist entsprechend langsam. Das macht es so schwierig, wenn der Mensch als schädlicher Faktor dazu kommt.«
Dass Kakteen in der Wüste bedroht sein könnten, klingt nicht naheliegend. Es ist aber so?
»Ja, ziemlich drastisch. Allerdings gibt es auch Kakteenarten, deren Population aus ungeklärten Gründen abnimmt. Da ist Saatgut vorhanden, aber es stirbt einfach ab.«
Du hast ja auch in deinem Podcast schon Kakteenunfälle behandelt – aber der häufigste Unfall ist eher, dass der Kaktus runterfällt.
»Dass jemand mit dem Auto dagegen fährt, ist in unseren Breiten sehr ungewöhnlich. Aber die Problematik ist die gleiche. Wenn ein Kaktus zerbrochen ist, kann ich ihn retten. Trocknen lassen ist grundsätzlich die beste Option. Das ist wie bei einem Knochenbruch, meist ist die Bruchfläche aufgefasert oder zersplittert. Also versuchen wir, die Wunde mit einem glatten Schnitt zu reduzieren. Dafür schneiden wir ihn mit einem scharfen Messer ab. Und dann lassen wir den Kaktus trocknen. Je nachdem, wie groß und wie alt der Kaktus ist, kann das sehr lange dauern.«
Findest Du es als Kakteenliebhaber denn geschmacklos, wenn Forza mit schöner Natur zum Plattfahren wirbt?
»Wenn die Kinder von unserer Kaktusfarm auf die Idee kämen, mit ihren ferngesteuerten Autos durch unsere Aussaat zu brettern, würde ich denen glaube ich schon den Kopf abreißen. Aber wir reden hier ja über Unterhaltung. Wir machen etwas, das wir in der Realität nicht machen können. Ganz salopp: In einem Ballerspiel erschießen wir andere Menschen, das ist mindestens genauso geschmacklos. Ich tu mich immer schwer damit, andere zu verurteilen.«
Du hast dir das Spiel mal angeschaut?
»Ja, und ich habe keine furchtbare Abscheu dabei empfunden. Für mich sind auch ausreichend Details nicht korrekt, dass mir klar wird: Hier werden keine echten Kakteen überfahren.«
Selber spielen möchtest Du es nicht?
»Mit Fahrsimulatoren stehe ich ganz ehrlich auf dem Kriegsfuß. Mein Sohn hat mich in ein paar Spiele mitgenommen und war sehr generös mit mir – ich hab eine Weile gebraucht, bis ich gemerkt habe, dass er mich gewinnen lässt. Aber meine Kollisionsrate ist immens. Ich fahre lieber im echten Auto. Da bin ich tatsächlich auch gern in der Wüste unterwegs! Aber ich verhalte mich brav und mache nichts platt.«
Wow, viel gelernt über Kakteen!
Bei mir ist es übrigens genau umgekehrt. Ich hasse Auto fahren im echten Leben, besitze selbst gar keins. Aber Kakteen umballern in Forza Horizon 5 liebe ich! Dank Xbox GamePass ist die Einstiegshürde erfreulich niedrig. Ziemlich dumm und mainstream, aber geil. Auch ein tolles Podcast/Katerspiel!
Sehr erhellende Interview, vielen Dank dafür.
Man erlaube mir eine kurze Piefigkeit. Es hat sich ein kleiner Copy Paste oder Anzeige Fehler eingeschlichen:
###Bis Kakteen so groß werden, dauert es vermutlich Jahrzehnte?
»Genau. Wenn so ein Ding ins Wanken kommt, dann wächst kein Gras mehr.«