Kultur, das ist: Theater, Literatur, Film, Musik, gern klassisch, eventuell populär, aber wer seine Kultur ernst nimmt, lässt sich kein U für ein E vormachen. So gesehen: Games-Kultur? Videospiele ein Kulturgut?

Auf dem Papier, gut, in schönen Reden, wie jener Angela Merkels zur Eröffnung der Gamescom 2017, sowieso: „Computer- und Videospiele sind als Kulturgut, als Innovationsmotor und als Wirtschaftsfaktor von allergrößter Bedeutung.“  Innovationsmotor, Wirtschaftsfaktor, jawohl, aber Kulturgut, in der Realität, mal ehrlich: zu seicht, zu laut, zu jugendlich belanglos.

Es ermüdet, die immerselben Kämpfe gegen dieses Unverständnis auszufechten, die ewig gleichen Argumente ins Feld zu führen mit einer, jawohl, seichten, lauten, zu jugendlich belanglosen Blockbuster-Industrie im Rücken, die für die meisten Menschen, ob games-affin oder nicht, für das gesamte Medium steht. Als würde man Film nur anhand des letzten Marvel-Blockbusters beurteilen, als wäre Literatur Dan Brown und aus, als hätte Musik mit Helene Fischer alles gesagt. Wer andere Medien anhand der genannten Beispiele gegenüber uneinsichtigen Desinteressierten verteidigen sollte, hätte wohl auch bald keine Lust darauf.

Dabei, und damit endet der erwartbare Teil dieses Beitrags, der zwischen Texten über das Schöne, Ewige, Tröstliche menschlichen Kulturschaffens stehen darf, sind Spiele wie wenige andere populäre Medien und Kunstwerke gerade in Zeiten weltweiter Pandemie ein verblüffend sensibler Seismograph für das Leben hinter und vor den Bildschirmen, die für Millionen mehr als sonst auch ein Fenster zur Welt sind. Statt eines Plädoyers: eine Pandemie in vier Spielen.

1 The Longing

Im Videospiel The Longing, das zufällig am unmittelbaren Vorabend des Ausbruchs der Pandemie in Europa veröffentlicht wird,  bin ich ein kleiner schwarzer Zwerg im Berg, Diener des schlafenden Kaisers in seinem unterirdischen Exil. Die Zeit vergeht in Echtzeit, die Wartezeit beträgt 400 Tage. Ja, echte Tage: So langsam wie die Zeichentrickfigur, kriecht auch die Zeit in dieser Isolation, die sich auf absurde Weise im Lockdown der ganzen Welt im Frühling 2020 spiegelt. Was tut man mit seiner Zeit, wie geht man damit um, dass Warten gefragt ist, Untätigkeit, Zeitvertreib? Jeder Spaziergang durch dieses unterirdische Labyrinth ist quälend lang, ein Rätsel besteht etwa darin, zwei Wochen Echtzeit zu warten, bis ein Tropfen einen Stein ausgehöhlt hat.

Das Spiel eines Stuttgarter Kleinstudios trägt die Sehnsucht nicht umsonst im Titel. „The Longing“ ist ein Experiment, halb Spiel, halb Tamagotchi, ein Selbstversuch in Sachen Eingesperrtsein. Es konfrontiert sein Publikum mit einer Aufgabe, die es sonst nicht in diesem – oder irgendeinem anderen – Medium gestellt bekommt: geduldig zu sein, untätig zu warten, machtlos auszuharren. Vielleicht: darin seinen Frieden zu finden. 

Videospiele, so schreibt der Journalist und Spielemacher Jim Rossignol in seinem Buch „This Gaming Life. Travels in Three Cities“, repräsentieren eine auf einzigartige Weise moderne Antwort auf das Problem der Langeweile. Der Schreckensvision einer Zukunft ewiger Langeweile, der „vast, conforming suburb of the soul“, wie sie der SF-Autor J.G. Ballard vorhergesagt hat, stellen sich Videospiele in den Weg, und zwar auf verblüffend vielfältige Weise. Sie konstituieren, so Rossignol, eine faszinierende, üppige Landschaft von Erfahrungen, die es zuvor auf diese Weise nicht gab. 

2 Animal Crossing: New Horizons

Als Animal Crossing: New Horizons im März 2020 erscheint, ist die Normalität weit weg. Die erste Phase einer historischen Ausnahmesituation, mit weltweiten Lockdowns, schockierenden Krankheitsausbrüchen und ungewisser Zukunft, weckt das Verlangen nach dem Vertrauten. Ein Feld bestellen, Pflanzen gießen, eine banale, simple Routine, Arbeit, keine Abenteuer, sondern Zuflucht: „Animal Crossing“ wird beinahe sofort zum Fluchtort von Millionen Spielerinnen und Spielern. Bis August verkauft sich das Spiel, in dem man seine kleine Insel bewirtschaftet und virtuell Freunde besuchen kann, etwa 22 Millionen Mal. 

Dabei ist die Welt von „Animal Crossing“ – nur auf den ersten Blick paradox – kein utopischer Raum: Die Loslösung von der in der Realität allgegenwärtigen Verwertungslogik unterbleibt, der gesellschaftlich reale Zwang zur Leistung und Optimierung ist trotz der kindlichen Präsentation fixer Bestandteil des Spiels, das in seiner virtuellen Wirtschaft im Gegenteil sogar eine Art dystopischen Kapitalismus im Kleinen abbildet. Das simple Handelssystem des Spiels wandelt sich schnell zum virtuellen Finanzplatz, auf dem echte Menschen mit echten Manipulationsstrategien mit den Preisen virtueller Rüben spekulieren. Die Journalistin Astrid Johnson hat in einem Essay „Animal Crossing“ aus marxistischer Perspektive analysiert: „Um das Proletariat zu retten, die Bourgeoisie abzuschaffen, müssen wir radikal sein und die Rüben essen.“ – daraus wurde nichts. Stattdessen deckten sich Millionen mit der vertrauten Kuscheldecke des gerade draußen eingefrorenen Systems zu. 

3 Fall Guys

Ineinanderstolpern, in dichtem Gedränge stecken, sich aneinander reiben, übereinander klettern, unter lautem Gejohle als Masse existieren: Der Slapstick von Fall Guys ist nur auf den ersten Blick Selbstzweck. Das Spiel, das im Sommer 2020, der traditionellen Saure-Gurken-Zeit der Spielebranche, erscheint, ist sofort ein millionenfacher Erfolg. Wie in der klassischen japanischen Gameshow Takeshi’s Castle gilt es hier, gemeinsam mit und gegen andere Menschen in absurden Geschicklichkeitstest anzutreten, um am Schluss als Einzige(r) siegreich übrigzubleiben.

Einer gegen alle, last man standing: Der erbarmungslose Überlebenskampf ist in der notorisch gewaltfixierten Mehrspielerwelt für gewöhnlich voll mit grimmigen Söldnern und Kriegersoldaten, das Battle-Royale-Genre stellt mit „Fortnite“ und Dutzenden vergleichbaren Spielen die wohl lukrativste Genrenische der Gamesbranche dar. „Fall Guys“ ist anders, denn hier ist alles bunt, überdreht, nicht gewalttätig, sondern im schlimmsten Fall knuddelig roh, ein Spiel, das am Ende alle mit einem Lächeln zurücklässt. Spiele sind nicht nur Gegenstände, oder, wegen ihrer Interaktivität, Tätigkeiten, sondern immer auch Orte, soziale Räume, die Begrenzungen aufheben. In „Fall Guys“ feiert der Sommer einen Moment lang, und „nur“ virtuell, die Erinnerung an Musikfestivals, Strandgedränge, das Aufeinandertreffen von Körpern. An den echten Stränden und Seen gilt pandemischer Abstand.

4 Valheim

Ein langer Pandemiewinter, wenig Optimismus in Sicht, Erschöpfung, Wut, Hilflosigkeit, Ausgeliefertsein, Passivität. Videospiele können etwas, das andere Medien, andere Kulturgüter nicht können: Sie erfüllen den Wunsch nach „Agency“, deutsch wenig elegant mit dem Begriff wirkmächtiges Handeln umschreibbar, lassen ihr Publikum Hand anlegen, Einfluss nehmen, Entscheidungen treffen, deren Auswirkungen sichtbar und wichtig sind. Das phänomenal erfolgreiche Wikingerspiel Valheim macht nichts Revolutionäres, erfindet keines seiner Spielelemente neu und verkauft sich in zwei Monaten seit Erscheinen sechs Millionen Mal, obwohl es noch nicht einmal vollständig fertig entwickelt ist. Das Geheimnis dieser Sandkiste ist, dass sie mehrere Bedürfnisse befriedigt, die die Realität gerade jetzt nicht stillen kann: die Rückkehr zu einer einfachen Welt des Jagens und Sammelns, eine idyllische Natur, die Möglichkeit, sich einfach mit Freunden zu treffen. Und: wirkmächtiges Handeln, das Gefühl, etwas tun zu können, die Chance, allein oder gemeinsam etwas zu leisten, das sichtbar sofort Niederschlag in dieser Welt findet.

Zuerst entstehen im nur vermeintlich simplen Konstruktionsmodus des Spiels Hütten und Langhäuser, doch mit zunehmender Popularität steigen Ambition und Experimentierfreudigkeit der Community. Bauten riesiger Ausmaße werden hier errichtet, Burgen auf atemberaubenden Klippen, Villen in der Krone riesiger Bäume, Türme, Festungen, Monumente. „Valheim“ bietet eine Welt, in der Entscheidungsfreiheit herrscht, wo Tempo und Spielziel frei wählbar sind, und vor allem: das Gefühl, sein Schicksal selbst in der Hand zu haben.

Rainer Sigl

Schreibt und spricht seit 2005 (nicht nur) über Videospiele. Lebt in Wien.

In den Welten hinter dem Bildschirm spiegelt sich die Realität, der wir in ihnen kurz entkommen. Der homo ludens, der spielende Mensch, ist ein vielfältiges Wesen. Vielleicht ist es genau das, was Spielkultur heißt, was sie zu leisten imstande ist, was ihren Sog und ihren Erfolg, aber auch ihre Einzigartigkeit erklärt. Spiel ist Lernen, Zeitvertreib, Ausgleich und Zuflucht. Aber auch und vor allem: Handeln, Agieren, Einfluss nehmen. Eine Kultur, die darauf Appetit macht, ist nicht nur nützlich. Sie ist nötig.

Dieser Essay erschien leicht gekürzt ursprünglich in: Kann das wirklich weg? 57 Interventionen für die Kultur, hg. von Marion Ackermann, Jörg Bong, Carsten Brosda und Gesine Schwan. Ch.Links Verlag, Berlin 2021.

12 Kommentare


Kommentare

  1. Avatar for Fabu Fabu says:

    Was mich mal interessieren würde: Was sind oder waren eure „Pandemie-Spiele“?

  2. Unsere Pandemie-Spiele, hmmm gar nicht so einfach.
    Rainer Sigl lag da mit seinem Text schon ziemlich richtig. Auch bei uns in der Familie hatte jeder seine Häuschen auf der Animal Crossing Insel erbaut. Ich, meine Tochter, mein Sohn, ja sogar meine Frau hat sich in die heile bunte Welt geflüchtet, fernab der verrückten pandemischen Welt da draußen. Und was andere stört, war für uns perfekt. Wie haben nur ein Modul und alle bauen gemeinsam an derselben Insel. Das war irgendwie ein schönes zusammenschweißendes Familienunternehmen.

    Die Faszination von Fall Guys ist mir zwar ein Rätsel, aber diese komischen Bohnen wobbeln auch jetzt noch über die Mattscheibe meines 15 jährigen Sohnes, seit Monaten. Vermutlich vereint das Game den Wettbewerbscharakter von Fortnite und den farbenfrohen Anstrich von Animal Crossing. Perfektes Pandemie Spiel so scheint es.

    Ansonsten fällt mir kein spezielles Pandemie Spiel ein. Aber was ganz entscheidendes! Die Pandemie hat dazu geführt, dass ich überhaupt mal wieder Zeit gefunden habe zu spielen. Vorher war die Zeit dafür kaum da, neben Arbeit, Familie, Sport und anderen Verpflichtungen war einfach kein Raum für’s Zocken.

    Seit Beginn der Pandemie änderte sich das etwas und ich konnte meinen Pile of Shame endlich mal angehen und reduzieren und meinem geliebten Hobby föhnen. Danke Corona :heart:

  3. Meine Pandemie Spiele waren… Naja, Pandemie Spiele. Ich hab mal wieder The last of Us Part I durchgespielt und anschließend nochmal Part II. Und auch ne ganze Zeit The Division 2.
    Und dann fand ich „ein bisschen öfter zu Hause bleiben und Kontakte reduzieren“ gar nicht mehr so dramatisch ^^

  4. Bei mir war das vor allem Phasmophobia. Mit Freund*innen zusammen Geister jagen war immer ein Stück weit ein Vorwand, sich zum Quatschen zu treffen und gemeinsam einen unsichtbaren Feind zu besiegen… mit WISSENSCHAFT! Das hat schon was pandemisches.

    Dazwischen kamen noch ein paar andere kooperative Multiplayer-Sachen wie diverse Halos, Hunt Showdown, Valheim zum Hype, dazwischen um letztes Weihnachten rum Among Us, letztes Jahr sicher auch noch mal ein paar Runden Playerunknown’s Battlegroudns. Aber Phasmophobia ist auf jeden Fall ein Spiel, das ich mit der Pandemie verbinden werde.

    Eher das Gegenteil von Eskapismus war Pathologic 2, das ich letztes Weihnachten spielte, als Corona im Vergleich zu heute noch „Neuland“ war. In dem Spiel muss man das Heilmittel gegen eine Seuche finden. Nicht nur das, auch in den Details hatte das gruselige Bezüge zur Realität. Man muss in versuchten Gebieten beispielsweise Masken tragen, um sich nicht zu infizieren und Türklinken von mit der Krankheit befallenen Gebäuden sind ebenfalls Infektionsherde. AHA-Regeln als Gameplaymechanik. Das war unwirklich, zumal das Spiel auch nicht unbedingt optimistisch ist.

  5. Ich hatte die Zeit genutzt um meinen Pile-of-Shame aufzuarbeiten.
    Dabei ist mir aufgefallen das mich viele Spiele häufiger emotional bewegen als früher.
    Ob das an der Pandemie-Stimmung liegt oder meiner aktuellen Lebensphase (Verlobung und gedanken zur Familienplanung) liegt kann ich nicht sagen.

    Grüsse aus der Schweiz

  6. Bei mir stellt sich in den letzten Monate eine willkommene Neugier auf Genres ein, die ich früher kategorisch ausgeschlossen hätte. Bin jetzt 49, spiele „erst“ seit 2015 und bislang nur Rollenspiele, Shooter, Actionkram und bißchen Aufbau, alles gerne düster, blutig oder Hirnschmalz verbrennend. Wünschte mir eigentlich schon länger mal etwas gegen schlechte Laune oder faule und genervte Stimmungen und bin so bei Portal Knights oder aktuell dem wunderbaren Wohlfühlspiel Grow: Song of the Evertree gelandet - 10 Minuten darin und ich hab ein Lächeln im Gesicht, fühlt sich an wie digitales MDMA. Geht zwar auch nicht nächtelang, aber für zwischendurch als Stimmungsaufheller ganz prima.
    Dann noch ein bißchen abtauchen in Subnautica VR und später gerne wieder Innereien über Boden und Wände verteilen^^

  7. JAAA ANIMAL CROSSING ZU BEGINN DER PANDEMIE ZOCKEN.

    Das war die beste aller Zeiten. Obwohl nein, überhaupt nicht.

  8. Ich nutze die Pandemie dazu mal wieder richtig in Spielen zu versacken; ohne auf die Uhr oder aufs Handy zu schauen. Und meinen ins Unermessliche gewachsenen BackLog zu reduzieren, ohne dabei aktuellere Titel komplett außer Acht zu lassen.
    Dies würde ja zu noch mehr BackLog führen…
    Ein Teufelskreis. :dizzy_face:

    Unter anderem spiele ich momentan folgende Titel:

    - Hunt: Showdown (PC)

    Unter den ganzen kompetitiven Online-BR-Shootern mit ihren toxischen Teenie-Wannabe-ProGamern (I’m looking at you Apex Legends.) ein Lichtblick. Design, Sound und Gameplay-Loop holen mich hier einfach voll ab und die Community ist mehr als erträglich.

    - Control (PS5)

    Hatte ich gar nicht auf dem Schirm und bin positiv überrascht. Dank PS Plus nun als „Ultimate Edition“ auf meiner vor 3 Wochen erstandenen PS5.

    - Assetto Corsa Competizione (PC)

    Als Rennsport-Fan der absolute Traum!
    Einfach nur stundenlang durch die Gegend ballern und sich stetig verbessern; und als positiver Nebeneffekt jeden Freitag Abend mit Kumpels aus der alten Heimat schnacken und ein paar (mehr oder weniger) entspannte Runden drehen.

    Crash Bandicoot - N. Sane Trilogy (PS4/PS5)

    Mir ist spontan wieder eingefallen warum ich als Kind dieses Spiel nie wieder angefasst habe. :rofl:
    Diesmal… DIESMAL LÄUFT’S ANDERS!

    The Witcher 3 (PC)

    War vor 5 oder 6 Jahren bei meiner neuen Grafikkarte dabei. Hab’s damals angefangen, es für durchschnittlich befunden und weggelegt. Nach erfolgreichem „Das musst Du endlich mal spielen, du Vogel!“-Gelaber gefühlt dutzender Freunde/Bekannten habe ich’s dann, aufgrund der „Was sollst Du jetzt auch anderes machen…“-Pandemie wieder angefangen.
    Hab’ zwar erst 20 Stunden Spielzeit, aber das sind immerhin schon 16 Stunden mehr als damals…

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