Brief und Sigl: Okkult und esoterisch

Bitte freimachen, falls Marke zur Hand.

Alle zwei Wochen setzt sich Rainer Sigl an seine Tastatur und schreibt dir einen Brief. Ja, dir. Es geht um die großen, wichtigen, letzten Dinge: Sex, Tod, die Liebe, das Leben, den Sinn des Ganzen. Und um Videospiele. Große, kleine, teure, obskure, die Menschen, die sie machen, kritisieren, spielen und lieben. Kurzum: Es geht ans Eingemachte. „Brief und Sigl“ ist eine Depesche aus dem Ludoversum.

Liebe Leserin, lieber Leser,

ich weiß nicht, wie es dir geht, aber: Es gibt Menschen, die hassen es, sich nicht auszukennen. Bei mir selbst kann ich das nicht so ganz genau sagen: Einerseits verlaufe ich mich zum Beispiel ebenso selten wie ungern und hasse Desorientierung wie die Pest. Andererseits bin ich  – Achtung, selbstironischer Klischee-Schmäh – als Österreicher vielleicht besser als andere gewohnt, mit unsauberen Unschärfen umzugehen und akzeptiere, dass man manche Mechanismen als Durchschnittsuntertan einfach auch gar nicht so genau verstehen soll und besser nicht nachfragt, weil 1. war das schon immer so, 2. da könnt’ ja sonst jeder kommen und 3. haben wir das schon immer so gemacht.

Also: Nicht genau zu wissen, was gerade los ist, kann nerven oder aber zur Würze des Lebens beitragen.  Auch bei Videospielen empfinde ich diese Ambivalenz. Die haben zwar – im Gegensatz zur Existenz in einer Operettenbananenrepublik – festgelegte Regeln, die wiederholbar dieselben Resultate erbringen, aber büßen bei absoluter Berechenbarkeit auch an Charme ein. 

Dass es Regeln gibt, macht also den Reiz und das Wesen von Spielen aus; wie – und ob! – sie mir vermittelt werden, ist dann aber nochmal nähere Betrachtung wert. Früher™, in der Zeit vor Internetforen, Twitch, Walkthroughs und vor allem  Tutorials, gab’s bei vielen Spielen noch teils recht fette Handbücher, in denen genau beschrieben wurde, wie das soeben erworbene Wunderwerk an Unterhaltungssoftware nun denn funktionieren würde. Wie das denn nun genau sei mit dem Ausrüsten von Torpedos und Unterwasserminen, wo in welchem Untermenü man das Ubootsonar nun aktivieren könnte, welche Ergebnisse dann dabei zu erwarten waren und was zur Hölle ein Ubootsonar eigentlich ist,  all das stand im  Handbuch. 

Wenn man denn ein Handbuch „zur Hand hatte“. Wenn man das Spiel nun „zufällig“ nicht gekauft, sondern per „Sicherheitskopie“ am Schulhof nur mal kurz „geliehen“ hatte, gab’s kein Handbuch und man stand blöd da. (Wo kommen die ganzen Anführungszeichen her auf einmal? Mysteriös.) Also wie gesagt: Man stand blöd da und konnte nix tun. 

Oder auch nicht, denn im Rausfinden, was eigentlich genau zu tun ist, liegt ein Spaß, der heutzutage und die längste Zeit viel zu wenig gewürdigt wurde.

Es ist eine nostalgische Erinnerung an die Frühzeit meines Spielerlebens: all die Nachmittage, an denen ich keinen Tau hatte, was ich da mache, aber trotzdem fasziniert und begeistert dabei war, genau das herauszufinden. Geduldig, durch Versuch und Irrtum sowie aufgeregten Austausch mit den ähnlich ahnungslosen Freunden am Schulhof tags darauf. Das Spiel war nicht nur Spiel, sondern als Ganzes ein mysteriöses Artefakt, das enträtselt werden wollte; und draufzukommen, wie das Ding denn nun überhaupt zu bedienen war, war oft sogar spannender, als dann tatsächlich seine Aufgaben zu bewältigen.

Denselben Reiz habe ich danach lange Jahre vermisst. Wie gesagt: Tutorials und Walkthroughs, Internetforen und eine im Vergleich zu früher beispiellose Zugänglichkeit haben bei vielen den Eindruck erweckt, dass es ein peinlicher Mangel eines Spiels sein müsste, wenn es sich in seinen Mechanismen, Abläufen und Regeln nicht sofort offenbart. So sind viele Spiele nach und nach banal geworden: die Unklarheiten schon im Tutorial weggebügelt, alle Geheimnisse per Tooltip vernichtet, der 100%-Walkthrough im Wiki oder auf YouTube nur einen Klick entfernt. 

Rainer Sigl

Schreibt und spricht seit 2005 (nicht nur) über Videospiele. Lebt in Wien.

Allerdings: In den letzten Jahren hat sich das wieder ein bisschen geändert. Ich weiß nicht, ob es tatsächlich ursächlich mit dem Erfolg von „Dark Souls“ zu tun hat, das bekanntlich sein Publikum absichtlich im Dunkeln lässt, oder ob es nur das offensichtlichste Beispiel für den Trend hin zu Spielen ist, die sich nicht sofort ausbreiten und allen Zauber wegerklären. Ich weiß aber, dass genau diese Spiele, die sich auf diese Weise zieren, zu meinen absoluten Lieblingsspielen geworden sind. Nicht nur in den Spielen von From Software: Dass ich in „Below“ vor einer Unterwelt voller Mysterien stehen darf, die sich nur langsam erschließen, hat mich vor drei Jahren genauso begeistert wie das Grübeln an den Rätseln in „La-Mulana“ oder das Erlebnis, hinter die Geheimnisse von „Cultist Simulator“ zu kommen.

In den letzten Wochen gab es gleich mehrfach Spiele, die sich selbst als Artefakte sehen und das Enträtseln, was denn hier überhaupt genau das Spiel sei, als zentral begreifen. Zum einen natürlich das große „Inscryption“, aber auch, viel kleiner und obskurer, „Nix Umbra“ und, ganz neu, „Teocida“

Diese Art von Gamedesign, bei dem das Aufdecken der Spielmechaniken selbst als Teil des Spiels begriffen und zelebriert wird, würde ich als „okkultes“ oder „esoterisches Gamedesign“ bezeichnen. Nicht wegen der Totenköpfe und Satanssymbole, die zumindest in den zwei Letzteren eine Rolle spielen, sondern eher im Wortsinn: Okkult, von lateinisch occultare, „verstecken“, „verbergen“, und esoterisch, im Sinne der griechischen Wurzel, „innerlich“, oder  auch der übertragenen Bedeutung: etwas Irrationales, Rätselhaftes bis Nebulöses, das nur von Eingeweihten zu verstehen ist.  Diese Einweihung oder Initiation macht den Reiz aus; da kann ein Handbuch, ein Tutorial oder auch ein Wiki nicht mithalten.

Wie eingangs gesagt: Es gibt Menschen, die hassen es, sich nicht auszukennen. Ich finde hingegen: Es ist spannend, etwas herauszufinden. Muss ja nicht die Funktionsweise eines Ubootsonars sein; dafür hätte ich dann doch auch gern im Handbuch nachgeschaut.

Dein

PS: Zwei Wörter: Rusty. Lake.

8 Kommentare


Kommentare

  1. Avatar for Corvus Corvus says:

    Auch wieder ein sehr schöner Brief und sehr gute Gedanken Rainer :slight_smile:

    Die Briefe von Rainer werden immer mehr zu meinem Lieblingstextformat hier (gut es ist auch das einzig dass planbar und dauerhaft erscheint :D). Aber jeder Brief von Rainer hat einen interessanten Gedanken und regt zum Philosophieren über die Spiele an.

    Ich bin da im übrigen Team Rainer, es ist auch mal gut dass ein Spiel sich nicht komplett erklärt und man noch selbst Sachen herausfinden kann. :+1:

  2. Avatar for Fabu Fabu says:

    Mir schreibt niemand! :sob:

  3. Auf zum schönen Elbstrand! :love_letter:
    Text Me Message In A Bottle GIF by Barbara Pozzi

  4. Kannst nicht auch Du Club27-Mitglied werden? :wink:

  5. Avatar for Jagoda Jagoda says:

    Kein Witz: Ich bin es deshalb geworden! Wir hatten Rainer nicht mehr als 50 versenden versprochen, vormals sogar 27… und damit er nicht über Gebühr belastet wird für „Privatbriefe“ habe ich gedacht, ich mische quasi anonym mit. Naja außerdem wollte ich natürlich eine goldene Mitgliedskarte, die auch auf 50 Stück limitiert sind und von den Druckkapazitäten gar nicht anders funktioniert hätten. hust. True Story.

  6. haha, sehr geil. So, als würde Giovanni di Lorenzo inkognito die ZEIT abonnieren, um eine schöne Abo-Prämie abzugreifen. :grinning_face_with_smiling_eyes:

  7. Ich musste erstmal ein paar Tage über mein Spielverhalten nachdenken…

    Ich entdecke jetzt gerade erst die Spiele für mich, „die sich nicht sofort ausbreiten und allen Zauber wegerklären“ (Sigl, Wien 2022). Interessanterweise durch das Post-Postskriptum aus dem letzten Brief und Sigl zum Thema „Play Brain“, in dem eben jener Hr. Sigl Hidetaka Miyazaki und das Buch zu Sekiro erwähnt. Das war der Grund, warum ich mir kürzlich die Remastered-Version von Dark Souls gekauft habe. Ich mag ja das chronologische Einstiegen in Gesamtwerke.

    Für mich ist dabei nicht mal das Nichterklären oder der Schwierigkeitsgrad des Spiels an sich das größte „Hindernis“, sondern eher mich dazu zu überwinden, mich wirklich darauf einzulassen. Ich habe nur einen begrenzten Zeitvorrat und muss noch ein bisschen lernen, dieses „Durchbeißen“ als Spielerfahrung zu sehen und nicht als Stein im Weg zum eigentlichen Spielerlebnis. Denn ich weiß, das mir das Spaß macht. Dark Souls z.B., hat mich sofort gecacht. Ist aber doch schwerer, als ich dachte, aus diesem jahrelang trainierten „Play Brain“ und überhaupt gewissen Spielgewohnheiten auszubrechen. Aber ich kann jetzt schon sagen: das ist es echt wert.

    PS Falcon 4.0 ohne Handbuch, hätte ich mir damals wahrscheinlich trotzdem nicht geben wollen. :scream:
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