Brief und Sigl: Play Brain

Bitte freimachen, falls Marke zur Hand.

Alle zwei Wochen setzt sich Rainer Sigl an seine Tastatur und schreibt dir einen Brief. Ja, dir. Es geht um die großen, wichtigen, letzten Dinge: Sex, Tod, die Liebe, das Leben, den Sinn des Ganzen. Und um Videospiele. Große, kleine, teure, obskure, die Menschen, die sie machen, kritisieren, spielen und lieben. Kurzum: Es geht ans Eingemachte. „Brief und Sigl“ ist eine Depesche aus dem Ludoversum.

Ihr Lieben,

während ich diesen Brief schreibe, schleppt sich das alte Jahr noch mühsam die letzten Meter seinem unspektakulären, aber überfälligen Ende entgegen. Ich bin mir nicht ganz sicher, was zu Silvester eigentlich gefeiert wird – dass ein neues Jahr beginnt, frisch und unverbraucht wie ein soeben aus dem Cellophan gerissenes Pack Spielkarten? Oder eher, dass das alte Jahr endlich, endlich zerknüllt, in den Abfall gepfeffert und in hohem Bogen auf den Müll gekickt werden kann? Ich neige letzterer Emotion 2021 mehr zu, aber: Wer weiß, was nachkommt.

Trotzdem, klar: Anfänge sind gut. Um den Schlenker hin zu Games zu machen: Nie ist die Freude größer, eine neue Spielwelt kennenzulernen, als ganz zu Beginn, wenn man alles noch sozusagen mit ganz frischem Blick betrachtet. Ich weiß etwa noch sehr gut, wie mich das erste Mal die atemberaubende Schönheit von „Destiny 2“ umgehauen hat. Riesige Kristallberge, Atmosphären voller fremder Farborgasmen, titanische Landschaften und Ruinen, so erhaben, dass man bei ihrem ersten Anblick nur mit offenem Mund dastehen und mit den Ohren schlackern kann.

Muss wohl ziemlich witzig ausgesehen haben, wie ich als Noob bei diesem Koop-Ausflug andächtig wie ein Supertouri alle paar Meter stehengeblieben bin und die Gegend angestarrt habe. Meine abgehärteten MitspielerInnen waren da schon längst über alle Berge, mit Vollgas waren sie durch diese unfassbar grandiose Kulisse Richtung Objective gesprintet, souverän Mobs zerballernd, wie Pendler auf dem Weg zur U-Bahn, zur Arbeit, zum Meeting. Zeit, an den virtuellen Blümchen zu schnuppern oder sich einfach nur ANZUSEHEN, WAS DA IST, hatte da keiner mehr. Abgesehen davon, dass sich die Megakulisse von „Destiny“ nach wirklich kurzer Zeit als eben das herausgestellt hat: als Kulisse, reiner Schauwert, hübsch, aber funktionslos, leer, Textur und Skybox. 

Hin und wieder denke ich an diese umwerfend talentierten Grafiker und Science-Fiction-Artists, die ihr Talent, Herzblut und Können in den Dienst dieser Verschwendung gestellt haben. Ich hoffe, sie werden wenigstens anständig dafür bezahlt, dass ihr Werk nur halb wahrgenommene Tapete ist, vor der blind der reinen Effizienz nachgejagt wird. Ich selbst habe „Destiny“ schon bald wieder beiseite gelegt, auch ein bisschen aus Groll exakt darüber. Anders gesagt: Ich habe mich verabschiedet, bevor das Gefühl der Ehrfurcht über eine Expedition in diese Welt zur Gedankenlosigkeit eines banalen Arbeitswegs werden konnte.

Es ist ein komisches Paradoxon: Je besser ich in der Interaktion mit einem Spiel werde, desto weniger nehme ich es in seiner Gesamtheit wahr. Es ist das Problem des „Play Brain“, so hat es meines Wissens zuerst der Game-Theoretiker Tadhg Kelly genannt: Unser Gehirn, stets auf Effizienz bedacht, filtert verdammt schnell Relevantes heraus und blendet zugleich alles andere aus. Das „Play Brain“ hat kein Interesse an Subtilität, es sieht gewissermaßen direkt durch das Spiel hindurch auf seine Funktionsangebote. 

Rainer Sigl

Schreibt und spricht seit 2005 (nicht nur) über Videospiele. Lebt in Wien.

Eine malerisch überwucherte Steilwand im Dschungel von „Uncharted“ wird vom „Play Brain“ sofort auf den vom Leveldesign einzig möglichen Kletterpfad heruntergekürzt. In einem techno-satanistischen Tempel in „Doom Eternal“, an dessen Wänden Skulpturen eine Jahrtausende alte Horrorgeschichte erzählen, sieht das „Play Brain“ zuallererst die Health-Packs und sucht dann schon den Auslöser des unweigerlich durch Architektur und Konvention angekündigten Bosskampfs. In all den Ubisoft-Open-Worlds genügt dem „Play Brain“ der Blick auf die Minimap, weil die am effizientesten informiert. 

Kurz gesagt: Unser „Play Brain“ ist eine verdammte Stressnudel und ein mieser Kunstbanause. Ich beneide Menschen, die diesen kleinen Tyrannen noch nicht im Oberstübchen haben und Spiele sozusagen mit den frischen Augen totaler Noobs sehen dürfen. Das „Play Brain“ abstrahiert, lässt die Deko verschwinden, sieht nur den Mechanismus. Es kürzt weg, bis am Ende der Speedrun steht. Oder nicht mal das, denn für den muss man ganz schön oft sehr kreativ um die Ecke denken. 

Immer wollen alle Pro sein; der „Anfänger-Geist“ hat kein hohes Ansehen in unserem Medium, oder vielmehr, Schritt zurück: in unserer ganzen „Hochleistungsgesellschaft“, die Effizienz als oberste Pflicht und Tugend verlangt.

Im Anfänger-Geist gibt es viele Möglichkeiten, im Geist des Experten nur wenige“, schreibt der Zen-Meister Shunryu Suzuki in seinem Buch „Zen-Geist, Anfänger-Geist“, und das gilt für so ziemlich alles, auch Videospiele. Als einziges interaktives Medium haben sie das ganz eigene Problem, dass diese Interaktivität immer wieder nach vorn drängelt und sie als audiovisuelles Gesamtkunstwerk konterkariert. 

Aber: Ein neues Jahr kommt, oder ist schon da, wenn du das liest. Smell the flowers in „Destiny 2“! Schau dir den Sonnenuntergang in „Far Cry 6“ an! Oder bau deinen Bibern in „Timberborn“ den höchsten Turm, auch wenn es spielerisch überhaupt nix bringt. Kurzum: Happy Noob Year!  

Dein

PS: Vielleicht hat mir ja auch deshalb Videospielfotografie so viel gegeben, weil sie gewissermaßen das Gegenteil von Effizienz in Videospielen darstellt: Schauen, Bewundern, Spazierengehen. Wenn du Lust hast, das in erstaunlich vielen Spielen selbst zu probieren, kann ich dir Frans Bouma sehr ans Herz legen – er  bietet seinen Patreon-UnterstützerInnen eigene Software exakt dafür an. Einfach Screenshot machen geht aber auch.

PPS: WAS unser „Play Brain“ alles so wegkürzt, hat mir die Lektüre dieses Buches wieder einmal gezeigt. Aber über die Spiele von Hidetaka Miyazaki werden wir hier sicher noch einmal etwas zu besprechen haben.

5 Kommentare


Kommentare

  1. Sehr schöner Brief wieder. In weiten Landschaften, auf Flüssen und in Wäldern, gelingt es mir auch in digital weiterhin, mein „Play Brain“ auszuschalten. Einfach nur zu staunen und genießen. Open World bleibt für mich daher in vielen Games faszinierend. Davon habe ich doch geträumt, als ich die ersten Pixel über den Bildschirm bewegt habe. Übersättigung stelle ich bei mir nicht fest. Hoffe, das bleibt auch 2022 so.

  2. Freut mich, dass ich da anscheinend nicht allein bin mit Gegend anstarren. „Komm,“ ruft Chernobylite, „da vorne ist Gameplay!“ Aber ich kann mich lange nicht vom leeren Waggoninneren lösen, so viele spannende Details. Und dann erst in der Werkstatt!


    Da geht einem doch wahrlich das Herz auf!
  3. ich muss zugeben, dass ich mein play brain nicht komplett ausschalten kann. phasenweise bekomme ich das ganz gut hin, aber das ist sehr von meiner grundstimmung aka tagesform abhängig. ich brauche einen recht hohen grad an entspannung, erst dann kann ich details und panoramen fremder welten wirklich genießen.

    aber wenn ich andere spieler:innen so anschaue, geht es mir da eh noch gut mit. denn ich bin nicht blind für diese virtuelle schönheit. zwar schaffe ich es nicht immer, sie zu genießen, aber ich weiß, dass sie da ist.

    und mit destiny hat herr sigl bei mir eh den richtigen knopf gedrückt. nicht umsonst stehen beide artwork-bücher bei mir im regal. für mich persönlich ist der artstyle und die welt von destiny noch immer mit das schönste, was videospiele bisher gezeigt haben.

    deshalb mag ich auch eine lanze für das spiel brechen. ja, es hat generische quests, ist trotzdem unzugänglich und ein servicegame mit allem bullshit, der mit servicegames einhergeht. aber die entwickler:innen von bungie haben auch dafür gesorgt, dass genießer auf ihre kosten kommen. denn in den verstecktesten winkeln gibt es noch environmental storytelling, das fast schon einem puzzel gleicht. das destiny-universum ist riesig und muss irgendwie erarbeitet werden (siehe youtube: mynameisbyf). aber gerade wer kein bock hat, questmarker abzugrasen und sich einfach durch die welt von destiny bewegen möchte, bekommt durchaus auch ein bisschen futter. brotkrumen vielleicht, ja - aber das reicht mir, weil der style und die background-story einfach genau meins sind. <3

    auf jeden fall mal wieder ein toller brief, der uns daran erinnert, nicht blind durch virtuelle welten zu laufen. denn bei jedem noch so kleinen detail hat sich ja jemand etwas dabei gedacht und ich finde es auch schade, dass das so oft untergeht.

  4. Hab mir im Sommer nach 10 Jahren einen neuen PC gegönnt, Horizon:Zero Dawn war eins der ersten Spiele die ich damit gedaddelt hab. Leute!, 2-3 Stunden war ich kaum in der Lage 10 meter geradeaus zu gehen, sosehr mußte ich erstmal die grandiose Welt in ihrem Detailreichtum und ihrer Atmosphäre bestaunen!
    Das Wohlgefühl befriedigender Schaulust hab ich aber schon immer in vielen Games genossen und ist und bleibt für mich ein Hauptgrund, virtuelle Realitäten zu bereisen. Die „künstlichen Paradiese“ (in jeder Form) waren einfach schon immer meins.
    Bin deswegen auch fast ausschließlicher Singleplayer, ich mag mein eigenes Tempo (laaangsam) nicht gern verlassen.
    Danke für den schönen Brief, nun weiss ich auch, das der irgendwann einsetzende und für den Flow ja auch unerlässliche Tunnelblick einen eigenen Namen hat!

  5. Hallo
    Sollen wir den Brief und Siegel als physischen Brief bekommen? Ist das richtig? Ich habe bislang nichts im Briefkasten gefunden. Bin im Club 27 …

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