Evercade VS: Die ziemlich andere Retro-Konsole

Mit der Evercade VS zockt ihr alte Spiele auf neuen Modulen. Ein spannendes Konzept.

Es gibt zwei Arten von Mini- bzw. Retro-Konsolen: Die „Offiziellen“ – von NES über PC Engine bis PSone – bringen gleich ein üppiges Sortiment an emulierten Klassikern der jeweiligen Hardware mit, sind dafür aber auf diese beschränkt. Die „Nachbauten“ hingegen ermöglichen das Abspielen von alten Games, mal per Emulation, mal auf FPGA-Basis – dafür braucht man hier die Originalmodule. Beides hat Vor- und Nachteile, von beiden Kategorien gibt hoch- und minderwertige Vertreter, beide Konzepte sind verbreitet und beliebt bei Retrozockern. Ja, und dann gibt es noch die Evercade…

Die bringt zwar auch betagte Spiele von einer kleinen Konsole auf moderne Bildschirme – doch diese Klassiker muss bzw. darf man auf neuen Modulen kaufen. Und das geht so: Retrospiele werden, nach Entwicklern bzw. Publishern gebündelt, auf schnuckelige Evercade-Module gepackt – z.B. Collections von Namco, Interplay, Data East, Technos oder Bitmap Brothers. Bisher gibt es 26 (durchnummerierte) Module, die seit Mai 2020 erschienen sind. Mal beinhaltet so eine Collection nur zwei Titel, auf der anderen schlummern dafür gleich 20 – in der Regel sind es aber sechs bis zwölf Retrogames. Preislich bewegen sich die Evercade-Cartridges je nach Shop bei knapp 20 Euro, sind also durchaus bezahlbar. Und sie stellen eben ein neues, eigenes und obendrein überschaubares Sammlergebiet dar. Und sowas soll beim geneigten Retro-Fan ja eher gut ankommen…

Die Evercade VS setzt auf weißes Plastik und rote Linienführung. Vorn am Gerät sind vier USB-Ports, rechts der Ein/Aus-Schalter. Die Pads verfügen über vier Frontknöpfe, Start, Select, Home sowie vier Schultertasten.

Eine sehr bunte Mischung

Bevor ich auf die neue Hardware Evercade VS eingehe, verdienen die Retro-Collections noch ein paar Ausführungen: Auf diesen tummeln sich nämlich nicht nur weithin bekannte, zigfach portierte Klassiker, die man schon auf drölfzig Sega-, Capcom- oder Namco-Sammlungen zuhause im Regal hat. Nein, hier gibt es auch fast verschollene Arcade-Schätzchen, sehr nischige Zusammenstellungen und sogar recht neue, weirde Indietitel. Ein paar Beispiele: Auf dem Modul Gaelco Arcade I, das just erschienen ist, warten Spiele wie Biomechanical Toy, Alligator Hunt und World Rally. Selbst Retrokenner*innen muss nicht bange sein, wenn sie davon nicht alles kennen – so entdeckt man die ein oder andere seltsame Perle und fühlt sich ein bisschen wie ein Games-Archäologe. Natürlich sind da auch Titel bei, die man schon nach fünf Minuten wieder auswirft, doch z.B. den spanischen Offroad-Geheimtipp World Rally hatte ich wirklich schon seit Ewigkeiten gesucht – den kannte und liebte ich nämlich aus dem Italienurlaub meiner Jugend.

Im aufgeräumten und sortierbaren Menü seht ihr alle Games einer Cartridge, hier bei der Data East Arcade I Collection durch hübsche Arcade-Flyer visualisiert.

Ein anderes Beispiel ist die The Oliver Twins Collection rund um den Ei-Held Dizzy: Dieser komische Kauz ist vielen Deutschen kein Begriff, erfreute sich in seiner Heimat England aber großer Beliebtheit. Klar, kann euch das am Arsch vorbeigehen, aber vielleicht seid ihr ja einfach neugierig und schaut mal rein, ob euch der Eierkopf taugt. Oder nehmen wir die Piko Interactive Collection 1: Piko Interactive ist ein kleiner US-Publisher, der sich ein stattliches Sammelsurium an Rechten obskurer Retrogames zusammengekauft hat. Selbst für mich als Pixelfan tummelt sich auf diesem Modul eine echt eigentümliche Zusammenstellung, aber wegen dem Brawler Iron Commando, dem Actionhopser Tinhead oder dem Comic-Plattformer Power Piggs of the Dark Ages hatte ich Bock, mir das kleine Modul ins Regal zu stellen. Die Evercade-Module sind übrigens anständig gemacht, mit stabiler Plastikpackung (14 x 10 cm), einem kleinen komplett farbigen Booklet (in dem alle Spiele aufgeführt sind) und bedrucktem Modul.

Zeitreise ins Jahr… 2020

Das wertige Evercade-Handheld erschien Mitte 2020 – wer lieber mobil spielt, ist das mit gut bedient.

Warum schon seit Mai 2020 Evercade-Spiele erschienen sind, obwohl die Evercade VS erst in diesem Februar kommt? Weil es davor schon die normale Evercade gab, eben seit Mitte des Jahres 2020. Eine kleine Handheld-Konsole mit demselben Konzept und denselben Modulen – deswegen sind die (bis auf zwei Namco-Collections) auch mit der Evercade VS kompatibel. Der Taschenspieler überzeugte mit okayem Bildschirm und solider Verarbeitung, wer wollte, konnte die Klassiker per HDMI-Kabel (in 720p) sogar auf den TV bringen und das Handheld als Controller nutzen. Das war auf Dauer etwas umständlich, aber es ging immerhin. Die neue Evercade VS ist komplett auf den Betrieb an der heimischen Glotze ausgelegt. Jetzt auch mit sauberer 1080p-Bildausgabe, ein paar vernünftigen Filteroptionen und komfortablem Speichersystem. Rückspulen ist zwar nicht drin, aber trotzdem gibt die Evercade VS in dieser Hinsicht ein anständiges Bild ab. Apropos VS: Dank der vier Ports können, je nach Spiel, nun auch bis zu vier Zocker gleichzeitig ran; und über WLAN darf man sich Firmware-Updates ziehen (ein Feature, das der Handheld-Evercade noch fehlte).

Evercade VS Retro

Release
11.02.2022
Entwickler
Blaze Entertainment
Publisher
Koch Media
USK
ab 12
Links
evercade.co.uk

Weniger geil ist die Optik der Konsole – ich finde schon, dass das weiße Plastikteil nicht gerade hochwertig aussieht, gleichzeitig ist das aber natürlich kein Beinbruch. Enttäuscht haben mich zudem die mitgelieferten Controller. Im Standard-Paket für 100 Euro ist einer dabei (plus das Modul Technos Arcade I), im Premium Bundle gleich zwei sowie die Module Technos Arcade I und Data East Arcade I. Die Pads sehen dezent fies aus und fühlen sich klapprig und klobig an, vor allem das Steuerkreuz ist mir zu wackelig. Im Spielbetrieb erweist sich dieses Manko aber als weniger gravierend, wie mir die reine Controller-Haptik suggeriert, ein bisschen wertiger hätten die Teile aber ruhig sein dürfen. Immerhin kann man per USB auch andere Pads anschließen, laut Hersteller wird diverse Peripherie (vom Xbox Adaptive Controller bis zu 8bitdo-Pads) unterstützt.

Kurzum: Die Evercade VS macht das, was sie soll, durchweg ordentlich. Meiner Meinung nach kommt es letztlich auf die Software an – die entscheidet, ob das Konzept Evercade etwas für euch ist: Wie erwähnt sind bisher bereits 26 Module erschienen, zwei weitere sollen Ende März kommen. Uneingeschränkt empfehlen kann ich von den bisherigen Collections keine, aber welche Mini-Konsole ist schon perfekt – entweder vermisst man den einen oder anderen Geheimtipp oder beschwert sich, dass man Donkey Kong Country eigentlich schon im Original und auf der Wii Virtual Console hatte. Und da finde ich den Evercade-Ansatz eigentlich ebenso gut wie unverbraucht: Zum einen haben Sammler dadurch noch mehr Kram, den sie sich ins Retroregal zwischen Atari Jaguar, Game Gear, Colecovision und Philipps CDi stecken können, zum anderen sind auf den Modulen ein paar schnieke Perlen verbuddelt.

Zum Abschluss hätte ich noch meine fünf Geheimtipps auf den ersten 22 Evercade-Modulen, die 2020 und 2021 erschienen sind – für alle jene, die mit freakigen Retrogames so viel Freude haben wie ich:

Two Crude Dudes Data East Collection 1

Ein Spaß für Freunde trashiger Schlägereien. In Two Crude Dudes marodiert man mit einem Postapokalypse-Punk durch Straßenzüge voller Graffitis, reißt Hydranten aus dem Boden und tritt Robo-Schurken von Speeder-Bikes. Look und Ästhetik haben was von Fist of the North Star triff Fallout – und das gleicht die teils flache Spielmechanik locker aus.

Wizard Fire Data East Arcade 1

Wizard Fire ist ein schicker Fantasy-Klopper aus Iso-Perspektive, mit Elf und Ritter, mit Morgenstern und fliegendem Drachen – ich fände auch den Ausdruck „Arcade-Diablo“ ganz passend. Nerd-Wissen A: Wizard Fire ist der zweite Teil der in Japan als Dark Seal bekannten Reihe, Teil 1 aka Gates of Doom ist auch Teil des Evercade-Moduls. Nerd-Wissen B: Ihr kommt auch einfacher an das Spiel, wenn ihr wollt: Entweder durch US-Import der Wii-exklusiven Data East Arcade Classices (einfach haha, die Konsole hatte einen Region-Lock) oder ganz simpel über die Download-Shops von PS4 und Switch, dort gibt es Wizard Fire als perfekt emulierten Einzeldownload (den ich mir natürlich vorher schon gekauft hatte, grr).

Drakkhen Piko Interactive Collection 1

Ein ganz frühes 3D-Rollenspiel mit offener Welt. Aus heutiger Sicht ist Drakkhen sehr rudimentär und sperrig, aber gerade deshalb auch für mich, der die RPG-Geschichte weniger gut kennt als die anderer Genres, brutal spannend. Hier tritt übrigens eine kleine Evercade-Schwäche zu Tage: Man erhält stets nur eine Version eines Retro-Titels. Von Drakkhen z.B. nur die SNES-Version und nicht die originäre Amiga- bzw. Atari-ST-Fassung.

Brave Battle Saga Legend of the Magic Warrior

Brave Battle Saga ist ein unlizensiertes, taiwanesisches Rollenspiel aus dem Jahr 1996, ebenfalls Mega Drive. Das Teil weckt mit seiner hübschen, farbenfrohen Grafik Erinnerungen an Secret of Mana, entpuppt sich aber als ausgewachsenes Rollenspiel mit rundenbasierten Kämpfen. Das Spiel bedient sich bei Kampfbildschirm, Musik, Hintergründen & Co. teilweise recht dreist bei Breath of Fire, Romancing Saga und Final Fantasy; es gab sogar mal eine übersetzte russische Version, die den Namen Final Fantasy im Untertitel trug.

Tänzer Mega Cat Studios Collection 1

Tänzer kennt man als crowdfinanziertes Mega-Drive-Spiel aus dem Jahr 2019 – und die Evercade stellt die einzige möglich dar, das Teil auch ohne die olle Sega-Konsole zu zocken. Lohnt sich das? Oh ja, der 2D-Actioner bietet, passend zum Namen, sehr elegante Hack’n’Slay-Action, die wohlig an den Capcom-Klassiker Strider erinnert.

Wie schon die kleine, tragbare Evercade mag ich auch große (semi-schöne) VS-Variante. Speziell bei der Controllerqualität ist noch Luft nach oben, dafür funktioniert sonst alles wie gewünscht: Die Bildausgabe ist scharf, die Emulationen laufen gut und das Menü ist aufgeräumt. Witzigerweise kann man sogar zwei Cartridges gleichzeitig in den Schacht jagen und hat dann mehr Auswahl ohne Aufstehen und Modulwechseln.

Matthias Schmid

Liebt junge & alte, pixelige & bombastische Videospiele, seine zwei Katzen und koffeinhaltige Brausen.

Von den vier neuen Collections, die zeitlich den Launch der VS-Hardware flankieren, finde ich vor allem die Gaelco Arcade I reizvoll. Wer mit der, meiner Meinung nach liebevoll kuratierten Software-Bibliothek wenig anfangen kann oder keinen Bock auf weitere Plastik-Packungen hat, der lässt besser die Finger davon – denn im Gegensatz zu Mega Drive Mini, Super Nt & Co. könnt ihr bei der Evercade weder die Blockbuster einer ganzen Hardware-Generation genießen noch eigene alte Module nutzen. Habt ihr jedoch noch Bock auf süße Module mit kuriosen Retro-Sammlungen, dann ist die Evercade VS das ideale Geschenk zum eigenen Geburtstag.

11 Kommentare


Kommentare

  1. Auch so ein Gerät (das Handheld und die Module) um die ich seit einiger Zeit umschleiche und überlege ob ich das haben will (ja will ich) und ob ich es brauche (definitiv nicht).
    Ich fürchte das läge sehr schnell in der großen Schublade unter meinem Fernseher, in der schon ein SNES Mini, ein MegaDrive Mini, eine PSOne Mini und ein Retro 5 nach kurzzeitiger Hochphase ein ödes Dasein fristen.

    Dieses Sammelding mit verschiedenen Cartridges ist aber auch zu verlockend.

  2. Schöner Artikel! Die Module sind sehr schick, wenn man allerdings keine neuen Module mehr sammeln möchte, sondern die Spiele tatsächlich nur SPIELEN möchte, können alle genannten Minikonsolen (außer der PC Engine) so ziemlich alle Spiele von allen Systemen aus der 8- und 16-Bit-Ära abspielen, nur der niedrige Speicherplatz von 512 MB setzt natürlich Grenzen und verhindert, dass man zum Beispiel mehr als ein paar einzelne Neo Geo- oder aufwendigere Automatenspiele darauf packt.

  3. Cool. Kannte ich noch überhaupt gar nicht. Wieder was(ted) gelernt. Spannendes Teil, feiner Artikel. :+1:t3:

  4. Avatar for VfBFan VfBFan says:

    Ein schöner Artikel über ein Thema welches mich so (fast) gar nicht interessiert.
    Doch das tolle an WASTED ist ja, dass hier nicht fünf und mehr Standardartikel am Tag lustlos rausgeballert werden. Und man dann nur noch diejenigen Themen liest die man eh schon kennt.
    :+1:t2:

  5. Ja, genau darauf hab ich angespielt und das hab ich auch bei allen Dreien gemacht. Aber ich hänge nicht so gerne externen Speicher an die Mini-Konsolen weil damit die Kompaktheit verloren geht (und fürs dranrumlöten reicht mein Bastlerenthusiasmus dann doch nicht).
    Für die „komplette“ Sammlung empfiehlt sich dann doch eher ein RasPi mit Recalbox und einer üppigen Micro-SD. Da laufen dann inzwischen auch die N64-Spiele halbwegs ordentlich drauf. Die Mini-Konsolen sind für mich eher Spielkram zum Experimentieren (kriege ich den Amigaemulator mit Sensible Soccer zum laufen, laufen Virtua Racing und Ridge Racer ohne dass das Ding zu heiß wird, sind die eingebauten Emulatoren besser und genauer als die von Retroarch …).

  6. Danke für den schönen Artikel und Deinen guten Geschmack! Ich bin auch Fan von dem Teil und will im Rahmen der Diskussion noch eversd ansprechen. Allerdings ist das natürlich nicht Sinn und Zweck des Gerätes aber eine Möglichkeit wie bei vielen Geräten im Retrobereich. Und ja, ich habe die ao ziemlich alle… LG

  7. Ja, ich hab auch so ein Mega Everdrive für das Mega Drive und das hat den Vorteil dass man zusätzlich alle Master System-Spiele (und SG-1000?) ohne Adapter auf dem Mega Drive spielen kann. Und diese SD-Kartenadapter für Originalkonsolen sind natürlich, neben einem FPGA, noch die optimalste Lösung wenn man den inzwischen ausgeleierten Modulschacht schonen möchte, Demos ausprobieren oder eben (diplomatisch und euphemistisch formuliert …) auf den Gesamtkatalog der jeweiligen Konsole zugreifen möchte. Aber was kann denn das/der/die Evercade, außer den schicken Modulen - ist die Emulation besser und genauer als bei vergleichbaren Multikonsolen?

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