In den meisten Computerspielen bedeutet Scheitern: „Game over!“ Wer nicht gewinnt, der verliert – und versucht es nochmal von vorne, bis schließlich der Sieg errungen ist. Dabei kann es doch so viel Spaß machen, auf die Schnauze zu fallen!

Game over! In grauer Vorzeit signalisierten Arcade-Automaten mit dieser Nachricht: „Du hast versagt! Gib mir Geld, dann gebe ich dir noch eine Chance.“ Auch auf Heimkonsolen hielt sich der Game-Over-Screen zunächst wacker – aber so richtig over ist das Game ja nicht, wenn ich sofort und ohne Münzeinwurf weiterspielen kann. Mittlerweile heißt es bei Versagen meistens „Du bist gestorben“ oder „Mission fehlgeschlagen“, und dann geht das Spiel auch schon vom letzten automatischen Speicherpunkt aus sofort weiter. Nach dem Tod ist vor dem Tod. Es gehört nicht zur Handlung von The Witcher 3, dass Protagonist Geralt stirbt. Er ist ja nicht wirklich von diesem Dach gesprungen, weil ich Depp den Fallschaden unterschätzt habe. Die dreckigen kleinen Spuren meines Scheiterns sind beseitigt – ich habe niemals versagt.

Vielen Dank, Resident Evil, ich hab’s schon selbst gemerkt.

Scheitern oder nicht scheitern: ein Paradoxon

Es ist schon seltsam: Scheitern ist zentraler Bestandteil der meisten Computerspiele – schließlich gibt es nichts zu gewinnen, wenn es nichts zu verlieren gibt. Aber gleichzeitig ist Scheitern verpönt und soll mit aller Gewalt vermieden werden. Das ist das Paradoxon von Computerspielen, wie Spieleforscher Jesper Juul es in seinem Essay The Art of Failure beschreibt: 1. Wir wollen nicht scheitern. 2. Scheitern gehört zu Computerspielen. 3. Wir zocken, obwohl wir mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit etwas erleben werden, das wir nicht wollen.

Christian Schiffer fordert in einem WASTED-Artikel: „Liebe Spiele, lasst mich endlich weniger wichtig sein!“ Dem Wunsch stimme ich zu und füge hinzu: Lasst mich nicht nur unwichtig sein, liebe Spiele, lasst mich dabei auch noch auf die Schnauze fallen – und die Konsequenzen spüren!

Natürlich gibt es Spiele wie Dark Souls, Hades oder Death Loop, das den Kniff schon im Titel trägt: Sterben und Wiederkehren ist Teil der Handlung, kann bleibende Vor- oder Nachteile mit sich bringen. Das ist eine – mal mehr, mal weniger – clevere Methode, um Spielmechaniken wie Game Over und Neustart narrativ zu verkleiden. Aber nicht ganz das, was ich meine.

The Cat Lady: Panikattacke statt Tod

Muss das Game denn unbedingt over sein, bloß weil ich gescheitert bin? In vielen Computerspielen ist Scheitern ein Verbrechen, auf das die Todesstrafe steht. Das muss nicht sein. Um wieder auf Christian Schiffers Aufruf zurückzukommen: Wenn Spiele kleinere Brötchen backen, dann kann auch das Scheitern „kleiner“ sein. Und wenn ich nicht sterbe, dann muss ich mit den Konsequenzen meines Scheiterns leben.

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Es gibt im trostlosen Psychohorror-Adventure The Cat Lady einen Spielabschnitt, der mir nie mehr aus dem Gedächtnis gehen wird – und der wahrscheinlich der unspektakulärste im ganzen Spiel ist. Protagonistin Susan – traumatisiert, depressiv, von Angststörungen geplagt – will zur Abwechslung mal einen entspannten Abend ohne Panikattacke erleben. Sie kippt Milch statt Kaffeeweißer in den Kaffee? Pech gehabt, die Milch ist sauer, der Stresslevel steigt. Sie liest nicht ganz genau die Anleitung auf der Packung, bevor sie den Fertig-Burger in die Mikrowelle packt? Pech gehabt, Essen im Eimer, Mikrowelle auch, Stresslevel steigt. Sie geht für eine Zigarette auf den Balkon ohne vorher eine verdammte Vogelscheuche zu bauen?! Pech gehabt, eine aggressive Krähe fällt über sie her, der Stresslevel steigt! Susan erleidet eine Panikattacke und weint sich in unruhigen Schlaf. Es gibt so gut wie keine Chance, diese Passage beim ersten Versuch zu meistern.

Eine der stressigsten Szenen im blutigen Psycho-Horrorspiel The Cat Lady: Susan will einfach nur entspannen, aber alles geht schief. (Rechts im Bild zu sehen: die @#$%&! Vogelscheuche!)

Das Scheitern scheint vorprogrammiert. Warum also nicht gleich das Scheitern in eine Cutscene packen? In Half-Life ballert Gordon Freeman sich im Alleingang durch Horden von Aliens und Soldaten, wird aber in einer Cutscene hinterrücks niedergeschlagen. (Keine Sorge, er schafft’s raus.) In Final Fantasy VII können wir mit der richtigen Strategie auch scheinbar übermächtige Gegner besiegen, aber unsere Begleiterin Aerith wird in einer Cutscene hinterrücks erstochen. (Keine Sorge, sie … Oh.) Das waren Momente des Scheiterns, die ihrerzeit für Aufsehen gesorgt haben.

Final Fantasy VII demonstriert, wie man eine ganze Gamer-Generation traumatisiert.

Der Unterschied: In The Cat Lady ist das Scheitern nicht wirklich vorprogrammiert. Es gibt eine unrealistische Chance, dass Susan diesen Abend ohne viel Stress übersteht und friedlich schläft. Auch wenn die Herausforderung unfair ist: Das Scheitern ist gewissermaßen selbstverschuldet. Nur so schafft The Cat Lady es, ein Stück von dem Gefühl jener depressiven Episoden einzufangen, in denen jede Alltagshandlung zur Herausforderung wird und jeder noch so kleine Rückschlag ein innerer Weltuntergang ist.

Disco Elysium: ein kleines bisschen seelischer Masochismus

Ja, auch andere story-fokussierte Titel wie die Telltale-Spiele oder Until Dawn erlauben Scheitern ohne Game Over, sodass wir mit den Konsequenzen leben müssen. Doch da geht es meistens um Leben und Tod – nicht darum, ob ein pappiger Fertig-Burger anbrennt. Manche Rollenspiele wie The Witcher 3 erlauben, dass wir in Quests scheitern. Aber erstens fühlt es sich oft so an, als würden wir das Spiel „falsch“ spielen; zweitens geht es meistens um staatstragende Konsequenzen; drittens ist die Spielfigur häufig ein vom Schicksal gebeutelter Held, der die Niederlage zähneknirschend oder melancholisch hinnimmt – kein totaler Versager. Es müsste ein Spiel geben, das diesen seelischen Masochismus befriedigt; ein Spiel in dem ich ein richtiger Loser sein kann; ein Spiel, in dem Scheitern Teil der zugrundeliegenden Philosophie ist; ein Spiel, das zeigt: Scheitern ist okay …

Adrian Froschauer

Adrian Froschauer Porträt in Farbe. Foto: Robby Lorenz

Schreibt Zeug. Redigiert am Digitaldesk der Saarbrücker Zeitung. Promoviert im Graduiertenkolleg „Europäische Traumkulturen“ mit einer Arbeit über Traumsequenzen in Computerspielen. Muss seiner Mama nicht mehr erklären, warum das interessant und wichtig ist.

Kommen wir also zu Disco Elysium! Protagonist des ungewöhnlichen Rollenspiels: Harrier „Harry“ Du Bois – Polizist und Alkoholiker, der mit sich selbst spricht, buschige Koteletten trägt und der Disco-Ära sowie einer lange vergangenen Beziehung nachhängt. Zu Beginn des Spiels hat er sein Gedächtnis weggesoffen, sein Auto in einem See versenkt, seine Dienstmarke verloren und seine Waffe verscherbelt. Harry ist ein erbärmliches Häuflein Elend – aber mit ein paar Talenten, die ihn mal zu einem Top-Ermittler machten. Es ist unmöglich, in einem Spieldurchlauf jeden der satten 24 Skills zu meistern; Harry bleibt immer in einigen Gebieten herrlich inkompetent. „Mein“ Harry war rhetorisch und kriminalistisch fit; das half ihm aber nicht dabei, einem muskelbepackten Zwei-Meter-Rassisten aufs Maul zu geben. Scheitern gehört also nicht nur dazu, es ist geradezu selbstverständlich. Und jedes Scheitern führt zu einer Szene, die Spielende nicht zu sehen bekommen, wenn sie erfolgreich sind.

In einem Interview sagt Autor Robert Kurvitz zum Scheitern in Disco Elysium: „You never lose content because of failing, the content just becomes more miserable – and a lot funnier as well.” Und Künstler Aleksander Rostov fügt hinzu: „I think winning is terribly boring.“ (In dem Interview sprechen Kurvitz und Rostov übrigens auch über das eigene Scheitern und kündigen das Spiel für Ende 2017 an … Sie haben dann zwei Jahre länger gebraucht.)

Manchmal will man einfach nur vor seinen Schulden weglaufen. Manchmal will man sich dabei nochmal umdrehen und seinem Gläubiger beide Mittelfinger entgegenstrecken. Manchmal steht ausgerechnet in dem Moment eine nette alte Dame in Rollstuhl im Weg. Dieser fantastische Moment in Disco Elysium wäre mir entgangen, wenn ich den Skill-Check erfolgreich bestanden hätte.

Disco Elysium erzählt eine Geschichte über das Scheitern. Vom Protagonisten über die NPCs bis hin zu einer historischen Revolution sind alle gescheitert. Und darin sind alle und alles verbunden. So eine Story könnte schnell mal in Macho-Kitsch à la „Steh immer einmal mehr auf als du hinfällst!“ abrutschen. Das tut sie auch hier und da, aber immer gerade so ironisch und selbstreflexiv, dass es erträglich ist. Die Grundstimmung der Welt von Disco Elysium ist weniger trotzig im Angesicht des Scheiterns, sondern eher müde und erschöpft. Trümmer und Stillstand. Warten auf etwas neues, besseres, das vielleicht nie kommen wird.

Wenn die Spielenden nur eine Lektion daraus mitnehmen, dann sollte es diese sein:

Scheitern
ist okay.

43 Kommentare


Kommentare

  1. Avatar for Fabu Fabu says:

    Game over! Kommentarbereich geschlossen.

    (Scherz.)

  2. Sehr schöner Artikel! Ich muss gestehen, dass das größte Gefühl des Scheiterns bei Disco Elysium mich in dem Moment überkommen hat, als ich nach 50 Stunden „The Expression“ abgelegt und Harry obendrein auch noch rasiert habe. Davon rate ich strengstens ab!

    Ich weiß aber total was du meinst. Es ist absurd, dass Scheitern in Tabletops Teil der Erfahrung ist und in Computerspielen oft überhaupt nicht angelegt. Wie ich schon im Thread von Christians Beitrag „Lasst mich weniger wichtig sein“ geschrieben habe verarschen dich Spiele sogar teilweise, um dir vorzugaukeln zu seist die unantastbare Heldin - gähn.
    Ich bin gespannt, wie z.B. ein Baldur’s Gate III das löst - dort gibt es ja auch skill checks. Wäre schade, wenn man dadurch schlicht Teile der Story verpasst.

  3. Avatar for Fabu Fabu says:

    Ich gebe dir…

    …Recht.

  4. Ich habe Disco Elysium noch nicht gespielt, mag aber Spiele, die nach einem scheitern einfach weiter gehen.

    Ich kann damit mittlerweile auch ganz gut leben. Früher hab ich eine Mission halt nochmal gespielt oder den Save geladen. Wenn mir nun einer abkratzt oder ich ein Item nicht mehr bekommen kann, scheiß ich drauf.

    Leider gibt es kaum Spiele, die auf sowas ein Augenmerk setzen. Banner Saga fällt mir da spontan noch ein. Ich habe aber ein Problem damit, das Spiele schwerer werden, wenn man scheitert. Das nervt mich wiederum und sorgt dann doch wieder dafür, das man den letzten Save lädt.

    Warum kann ein Spiel nicht ausgeglichen weiter gehen? Oder vielleicht sogar leichter werden xD

  5. Avatar for Frosch Frosch says:

    Oh heilige Scheiße, ja, Harry muss sowohl das dämliche Grinsen als auch den Bart behalten!

    Und natürlich bietet sich so etwas auch nicht bei jedem Genre oder einzelnen Spiel an. Rollenspiele mit Skill-Checks nach Tabletop-Vorbild sind geradezu prädestiniert! Aber selbst da kommt es zu oft vor, dass nach einem fehlgeschlagenen Skill-Check Schluss ist oder man einfach nicht weiterkommt, bis man den entsprechenden Skill verbessert hat und denselben Check nochmal versucht.

  6. Ähh…Darkest Dungeon?

  7. NHL 2021 gegen meinen Schwager. Da habe ich scheitern, regelmässig.

  8. Avatar for Frosch Frosch says:

    Darkest Dungeon hat mal bei Last Game Standing gegen Darkest Dungeon verloren, und trotzdem kam Darkest Dungeon in die nächste Runde. Also ein gutes Beispiel.

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