FAR Changing Tides: Über allen Wellen ist ruh

Hans Dampf in allen Wassern.

Ein unverstellter Blick in die Weite ist tröstlich. Was ist tröstlicher? Vielleicht, wenn der Blick in die Weite verstellt wird und wir ihn wieder freiräumen? Klingt eher mechanisch, funktioniert aber.

Es passiert zum x-ten Mal, als ich mich hinten aufs Dampfschiff stelle und schaukelnd das Ufer suche: Holzlatten treiben auf dem Wasser am Rumpf vorbei. Das Warnzeichen kenne ich. Mit Sicherheit naht ein Hindernis, und ich stehe am völlig falschen Platz.

Ich stürme in den Maschinenraum, denn da kann ich bremsen. Auf dem Weg zum Gashebel hüpfe ich knapp an der Plattform vorbei, stürze ein Stockwerk nach unten und klatsche auf den Blasebalg, der frische Luft in den Kessel pumpt. Freudig schnauft die Maschine. Dann rauscht sie knirschend in eine überschwemmte Ruine und geht kaputt. Ich blinzle und verfluche meine alten Daumen.

Wir sind der kleine Stöpsel mit den rostfarbenen Haaren.

FAR ist weder schlimm noch neu

Natürlich bin ich ungeschickt, aber ich habe einen Verdacht: FAR hat Unfälle wie diesen schon eingepreist. Es geht hier nicht ums Überleben. Die Katastrophe ist schon vorbei. Ich sehe zwar unbestimmt menschlich aus, bin aber eher eine Kakerlake – unverwundbar. Kurze Reparaturarbeiten sind der schlimmste mögliche Ausgang; niemand ertrinkt oder verhungert, kein Speicherpunkt wird neu geladen. Es geht um die lange Ruhe. Und die wirkt besser, friedlicher, wenn sie vorher hart erarbeitet wurde. Das Boot fährt wieder! Das reicht, dann bin ich glücklich.

FAR: Changing Tides Action-Adventure

Plattformen
PC, PS4, PS5, Switch, Xbox One, Xbox Series
Release
01.03.2022
Entwickler
Okomotive
Publisher
Frontier Developments
USK
ab 0
Links
farchangingtides.com

Wer das neue FAR: Changing Tides nicht kennt und auch nicht aus Versehen schon angespielt hat, weil es seit ein paar Wochen in Microsofts Gamepass rumhängt, könnte trotzdem ein Déjà-vu erleben. Denn Changing Tides ist eine Fortsetzung. Das erste Spiel hieß FAR: Lone Sails, es erschien 2018 und hat einen Metacritic-Score von 80 bis 88. Es handelte von einem kleinen, kaum erkennbaren Menschlein, das mit einer unschierigen Dampfmaschine tapfer immer weiter durch die Einöde rauschte.

Dampf’n’Run

Rein mechanisch gesehen ist FAR eine Art Jump’n’Run. Die winzige Heldenfigur rennt, hüpft und taucht entweder durch ihre Dampfmaschine oder durch andere Ruinen einer industrialisierten Welt. Die Figur hat das unerklärte Ziel, voranzukommen. Dafür entdeckt und bedient sie riesige Loks, Schiffe, Kräne und andere Maschinen. Regelmäßig gehen Dinge kaputt und müssen repariert werden. Die Steuerung ist simpel, es gibt genau einen Knopf zum Hüpfen und einen zum Zupacken oder Bedienen. Hier geht es nicht um echte Hürden, eher um etwas Reibung, damit sich die Reise interaktiv anfühlt. Auch die Rätsel lösen sich durch hartnäckiges Schauen und Knopfdrücken wie von allein.

Ein Großteil der Faszination wächst aus dem Maßstab. Die Welt erinnert an ein Gemälde; wir sind nur ein Pinselstrich, der tapfer hin und her wuselt, kleine Paketchen durch die Gegend schleppt und verheizt, damit das Gemälde endlich hustend weiterscrollt.

Ruinen in der Ferne erzählen die Geschichte von der Endlichkeit allen menschlichen Strebens.
Wind und Rauch wirken in Changing Tides irgendwie lebendiger als anderswo.

Vom Gleichen die größte Portion

Die Prämisse bleibt. FAR: Changing Tides ist wie FAR: Lone Sails, nur auf dem Wasser. Die Spiele sind dermaßen ähnlich, dass ich zwischendurch den Verdacht hatte, sie würden sich optisch gar nicht unterscheiden. Aber meine Erinnerung trügt: Teil 1 sieht simpler aus, steuert sich einfacher, ist weniger detailliert und halb so lang.

Die Verdopplung der Spielzeit macht es nicht besser

Das neue FAR ist also die ganz klassische Spielefortsetzung: Handwerklich besser, größer und schöner, aber auch überflüssiger. Die ungefähre Verdopplung der Spielzeit auf vielleicht sechs Stunden macht es nicht besser. Ich hätte gerne ein, zwei Holzhaufen weniger aus dem Weg geräumt. Allerdings nimmt sich das Spiel die Zeit nicht grundlos; die wortlose Geschichte hat einen Rhythmus aus Unfällen und Upgrades, der gut funktioniert.

Bis auf einen (SPOILER) schönen finalen Kniff gibt es allerdings keinen Grund, nicht einfach FAR 1 oder FAR 2 zu spielen und dann was anderes zu machen. Sie fühlen sich praktisch gleich an. Beide inszenieren eine sehr spezifische Idee auf eine originelle Weise. Beim zweiten Mal sind Ideen eben nicht ganz so neu.

Spielbare Leere

Quantitätsmatrix

In dem Spiel geht es ums Warten und Schauen, um Leere und Sehnsucht. Für actionorientierte Freund*innen des Mediums ist es damit wahrscheinlich öde wie ein Witz ohne Pointe. Ich bin anders, ich habe mich vorübergehend sogar mit Train Sim World angefreundet und die einen oder anderen hundert Stunden als rumpeliger Fernfahrer in Elite: Dangerous verbracht. Ich gehöre eindeutig zur Zielgruppe. Und es funktioniert! Ich fühle mich von der langsamen Fahrt durch die überschwemmte Einöde, durch Industrieanlagen und Häuserruinen abgeholt. Die Besessenheit unseres Mediums mit immer neuen Apokalypsen geht mir generell zwar auf die Nerven, aber hier wird sie anders dargestellt. Keine überflüssige Infotafelzerquatscht die Stimmung. Kaum etwas wird dramatischer inszeniert, als es ist. Es geht darum, wie es sich anfühlt, sich in dieser Welt aufzuhalten. Und ganz allgemein um den Trost, den wir nach Katastrophen in einfachen, produktiven Handlungen finden können.

Solche Momente stecken auch in Changing Tides immer wieder, und sie fühlen sich triumphal an. Aber dann schippert die Maschine weiter, fährt an matschigen Ufern vorbei, die einander irgendwann zu ähnlich sehen, und dann treiben die nächsten Holzlatten am Rumpf vorbei.

Unter Wasser muss auch die Höhe geregelt werden, das wird schnell stressig.
In dieser Industrieruine könnte man vielleicht ja noch einen Hochseilgarten einrichten, um den drohenden Abriss abzuwenden.

Grind in Sicht

Wenn ich mit Volldampf auf solche Wiederholungen zugefahren bin, hatte ich jedes Mal keine Lust mehr. Wenn ich dann doch drangeblieben bin, unaufmerksam wurde und dann wegen des Maßstabs und des Seegangs und der Allgegenwart der Knöpfe und Hebel das Segel nicht rechtzeitig eingeklappt oder den Schub umgekehrt habe, dann hatte ich sogar das Gegenteil von Lust. Dass ich irgendwann am Schiff gehangen habe wie einst am Companion Cube in Portal, hat die Sache nur bedingt besser gemacht. Jeder Kratzer im Lack war meine Schuld.

Lange fernbleiben konnte ich allerdings nicht. Die Rätsel mögen einfach sein, aber sie sind schön – sie zeigen mir wieder und wieder, wie ich als kleiner Strich schwere Maschinen bewegen und ein Hindernis aus dem Weg räumen kann. Das ist sehr elegant und sehr befriedigend. Wenn dann noch der Soundtrack zwischen Kammermusik und E-Gitarre langsam aufwacht, wirkt das jedes Mal wie eine Belohnung. Und die Grafik ist vielleicht auf Dauer zu farbarm und verwaschen, aber die Stimmungswechsel bleiben bis zuletzt magisch.

Fazit

Punkte: 78

Jan Bojaryn

Jan Bojaryn schreibt für Tageszeitungen und Kulturzeitschriften über Videospiele und vergleichbar wichtige Themen.

FAR Changing Tides ist ein schönes Spiel, aber auch eine kleine Enttäuschung. Ich fand die Idee hinter FAR: Lone Sails so gut und die Umsetzung so stark, dass ich mit einem ähnlich brillanten Spiel rechnete. Stattdessen habe ich eine Fortsetzung bekommen. Das ändert nichts daran, dass sich die Reise lohnt! Wenigstens eine der beiden.

FAR: Changing Tides

Ein schönes Spiel, aber auch eine kleine Enttäuschung.

Höhe in Disketten
5,55 m
Spieltiefe
34 bar
Ist das noch Indie?
78%
Gewalt
0,08 Doom
Eleganz
8,2
Metascore-Abweichung
-1

10 Kommentare


Kommentare

  1. Avatar for Fabu Fabu says:

    Halten wir fest: FAR 2 ist eleganter (8,2) als Elden Ring (8,0).

  2. Höhe und Tiefe dürften das locker wieder ausgleichen :thinking:
    Gibt’s eigentlich bei den Quartettkarten festgelegte Zahlenbereiche, oder ist das spaßeshalber alles beliebig?

  3. Avatar for Fabu Fabu says:

    Fürs Design sind noch Infotexte angedacht, die das alles erläutern. Aber ja, es gibt festgelegte Bereiche:

    Höhe in Disketten: Installationsgröße auf 1,44MB-Disks, dann gestapelt
    Spieltiefe 1-100 bar
    Ist das noch Indie? 1-100%
    Gewalt 0,00 - 5 Doom
    Eleganz 0,1 - 10

    Edit: Was @VfBFan sagt.

  4. Avatar for VfBFan VfBFan says:

    Das „Problem“ mit der Höhe ist ja immer noch nicht gelöst. :face_with_open_eyes_and_hand_over_mouth: :stuck_out_tongue_winking_eye:

  5. Avatar for Fabu Fabu says:

    Ach komm, 3mm Diskettenhöhe geht schon klar. :grin:

  6. Avatar for VfBFan VfBFan says:

    Ich werde mich nicht an die :wasted:-Empfehlung halten und trotz des Durchspielens vom ersten Teil mir die Fortsetzung kaufen, aber erst später dann irgendwann. :slightly_smiling_face:

    PS: Gibt’s sowieso noch nicht bei GOG. :wink:

  7. Schöne Review.

    Dachte bisher dass das FAR im Gamepass der erste Teil wäre und hab auch bei dem Text erst im 4. Absatz gecheckt dass es hier um eine Fortsetzung geht… :see_no_evil:

    Weil da stand „das neue FAR“…

Setze die Diskussion fort auf community.wasted.de

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