Wir sind mit Spielen groß geworden. Jetzt werden in unserem Leben unsere Kinder mit uns groß. Bleibt zwischen Windelwechseln, Krabbelgruppe und Breifütterung überhaupt Zeit zum spielen? Was geben Games uns mit auf dem Weg mit Nachwuchs? Geben wir unsere Liebe zu virtuellen Welten weiter? Hier gibt es Monat für Monat eine Heldinnen-Reise von der Geburt bis zum ersten eigenen Griff zum Controller.

Das Knallen der Schüsse empfängt sie schon vorne an der Haustür. Bam, bam, bam! Aus dem Wohnzimmer dringt flackerndes Licht. Zwei Gestalten erwarten sie dort, eine kleine, die andere groß. Die kleine Gestalt sitzt, die andere liegt schon zusammengesunken zwischen den Kissen.

Pssst, seid leise. Opa schläft.“ Laut meinen Eltern habe ich sie im Alter von fünf Jahren mit diesen Worten begrüßt, als sie von einem kinderlosen Abend nach Hause kamen. Mitten in der Nacht. Ich saß auf dem Sofa, neben meinem schlafenden Babysitter-Opa. Offenbar war er schon länger nicht mehr wach. Denn im Fernseher lief ein Western, in dem gerade John Wayne im finalen Shootout aus der Hüfte Tod und Verderben servierte.

Ob das der Start meiner Faszination für das Genre war? Wer weiß. Jedenfalls habe ich meine Jugend mit den Filmen von Sergio Leone, Sam Peckinpah und John Sturges verbracht. Mit Männern in speckigen Mänteln und Pfannen voller Bohnen mit Speck. Mit dem Niedergang des US-amerikanischen Mythos von Freiheit und Grenzenlosigkeit. Mit Mundharmonikas, mit Ponchos, mit Pathos und mit dem Soundtrack von Ennio Morricone. Als 2010 „Red Dead Redemption“ erschien, war ich zwar kein Kind mehr, aber trotzdem glückselig.

Endlich ein Western mit mir in der Hauptrolle – also John Marston – aber trotzdem. Das war mir viel näher, als die Gangster aus „Grand Theft Auto“. Die Ausritte in der schier endlosen Prärie, der Besuch im Saloon, Viehtrieb und eine Fahrt mit der Dampflokomotive. Yee-haw!

Und nun, beinahe zehn Jahre später, fast ein Jahr nach der Geburt meiner Tochter im November 2019, endlich ein neuer Teil. Selbstverständlich steige ich umgehend mit dem neuen alten Helden Arthur Morgan in den Sattel. Ich freue mich über die blutroten Sonnenuntergänge, die dichten Wälder und stiefel schlammverschmiert durch die Siedlung zum nächsten Saloon. Sporenklirrend. Aber es passiert… nix. Ich kann dieses Spiel nicht spielen. Es überfordert mich. Die schier endlose Prärie empfinde ich vor allem als eines: endlos öde.

Ständig hat der Chef der Bande – Dutch van der Linde – einen neuen genialen Plan. Ständig soll ich minutenlang über die endlose Karte reiten, um einen neuen Coup auszuhecken. Ständig werde ich in minutenlange Schießereien verwickelt. Ständig stolpern mir dabei NPCs vors Pferd, die auch noch Probleme haben und Hilfe wollen.

Wie soll ich so einem Übermaß an Spiel gerecht werden? Offene Welt, endlose Weiten, so viele Möglichkeiten. Ich probiere das Spiel abends zu spielen, nach der Arbeit, nachdem ich einige wenige Stunden mit meiner Tochter verbracht habe. Es geht nicht.

Ich versuche es am Wochenende, wenn sie ihren Nachmittagsschlaf auf meinem Bauch macht und ich auf dem Sofa sitze. Es geht nicht. Ich bin open-world-müde. Ich bin AAA-müde. Ich bin spielmüde. Ich bin müde. Nur noch müde.

Dabei wäre „RDR2“ noch vor ein paar Jahren das Game gewesen, mit dem ich mir Nacht um Nacht um die Ohren geschlagen hätte. Um jede Nuance aufzusaugen. Um nochmal Cowboy zu spielen. Um mich in dieser anderen Welt zu verlieren. Doch in meiner Welt hat diese andere Welt jetzt ihren Platz verloren.

In den vergangenen Monaten bin ich abends so oft in diesen anderen Welten gewesen. Mit Nathan Drake, mit Joel und mit Kratos. Aber ich bin voll. Das Spiel ist aus. Habe ich es übertrieben? Mich an glattpolierten High-Class-Games überfressen?

Christian Neeb

War früher Redakteur beim GEE Magazin, bei der Fernsehsendung Reload und beim Spiegel. Heute wechselt er Windeln, kocht Nudeln mit roter Soße, liest Geschichten vor und schreibt nebenbei als freier Autor.

Dass ich dabei zunächst eine der schönsten Familiengeschichten verpasse, die ich in Videospielen erlebt habe, weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Denn sie passiert erst ganz am Ende, wenn „Red Dead Redemption 2“ schon beinahe vorbei ist. Wenn mein Hauptcharakter Arthur Morgan tot ist. Wenn er den Staffelstab an seinen Schützling den jungen John Marston übergibt. Wenn der sich von dem alten Outlaw-Leben verabschiedet, um endlich Zeit für seine Liebsten zu haben. Für seine Familie, sein Kind. Das erfahre ich alles nicht, weil ich endlich Zeit für meine Liebsten haben will. Für meine Familie, mein Kind. Geht es nur mir so?

Erst ein Jahr später werde ich mich dazu aufraffen, dieses Spiel doch noch zu spielen. Und all das zu erleben. Spiele sehe ich in dieser Zeit hauptsächlich, wenn meine Tochter sie aus dem Regal zieht, um mit ihnen zu… spielen. Wann werde ich wieder auf Continue drücken? Habe ich überhaupt noch ein Extraleben?

7 Kommentare


Kommentare

  1. Avatar for Fabu Fabu says:

    Was mich zu der Frage führt: Spielt jemand von euch Mundharmonika?

  2. Es geht nicht. Ich bin open-world-müde. Ich bin AAA-müde. Ich bin spielmüde. Ich bin müde. Nur noch müde.

    Das trifft es so gut. Selbst wenn Eltern es irgendwie irgendwann geschafft haben, Zeit für sich zu haben, geht vieles trotzdem nicht, weil die Akkus einfach leer sind.

    Man gibt einen großen Teil seines Lebens für einen gewissen Zeitraum schlicht und ergreifend auf. Ist es das wert? Ja. Ist es trotzdem frustrierend? Ja.

    Ich habe erst jetzt langsam, nach knapp zwei Jahren, das Gefühl ein bisschen was vom eigenen Leben zurück zu haben. Kleine Häppchen zwar, aber immerhin. Und erst jetzt ist wieder, ganz langsam, ein bisschen Raum da für so etwas wie das Hobby Computer- und Videospiele.

  3. Auf den Punkt gebracht!

  4. Avatar for cneeb cneeb says:

    Hey strapinski, danke für deinen Kommentar. Mittlerweile finde ich es auch vollkommen in Ordnung, dass wir dann einfach mal auf Pause drücken und erstmal eine Auszeit von Dingen nehmen. Aber in der Situation ist dieser „Verlust“ des alten Lebens erstmal ziemlich gruselig, oder? Jedenfalls ging es mir so.

  5. Auf den Punkt gebracht. Inzwischen spielen bei mir die Kinder und ich schaue nur noch Müde zu. Spielzeit für mich finde ich nur noch in der Arbeit und dann sehe ich es als Recherchetätigkeit an. Sprich kurz anspielen, aber auf gar keinen Fall eintauchen. Bloß kein endloses OpenWorld… Meine Studierenden erzählen mir dann was ich gerade alles verpasse :wink:

  6. Junge Eltern lieben diesen Kolumnentrick!

    Einfach einmal ein aufrichtiges Danke für deine Texte.

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