Wie divers ist dein Geschlecht auf einer Skala von eins bis zehn? Wenn du dich als Frau identifizierst, ist die Antwort darauf fünf. So rechnet jedenfalls das neue “Diversity Space Tool”, das Activision-Blizzard als Lösung für mehr Vielfalt in Games vorgestellt hat. Wer das für Bullshit hält, ist nicht allein. Dabei steckt hinter dem Tool eine ganz andere Idee.

Activision-Blizzards Diversity Tool ist ein technokratischer Alptraum: die Software klebt der Vielfalt von Figuren Zahlen auf und will sie messbar machen. Spieler*innen sind empört, die internationale Spielepresse findet es schrecklich. Dabei waren die Intentionen offenbar gut, die Ziele hehr. “Mit diesem innovativen neuen System hat der Charakterdesignprozess nun eine konkrete Möglichkeit, Tokenism, Stereotypen und Ausgrenzung zu vermeiden” heißt es in der ursprünglichen Version des Beitrags, die mittlerweile überarbeitet wurde. Man erfährt auch, dass das Tool schon seit 2016 bei der Tochtergesellschaft King entwickelt wird. Die Beschreibungen sind jedoch mit Grafiken illustriert, die jede Hoffnung ersticken, es könnte sich um eine gute Idee handeln.

PR-Grafik für das Diversity Space Tool | Bild: Activision-Blizzard
PR-Grafik für das Diversity Space Tool | Bild: Activision-Blizzard

Einmal Frau macht fünf, widdewiddewitt, und drei macht Neune

In einer Abbildung (unten) ist die Overwatch-Heldin Ana unter einem Diagramm zu sehen, das ihr Werte in unterschiedlichen Bereichen zuweist. Da gibt es zum Beispiel Culture, Race, Age, Body Type, Gender Identity und Sexual Orientation. Eine Geschlechtsidentität als Frau bringt ihr dabei fünf Punkte ein. Ägyptischer Hintergrund? Sieben von Zehn. Hetereosexualität gibt überhaupt keine Punkte.

Benjamin Strobel

Nennt sich Gamepsychologe, weil er Psychologe ist und sich mit Games beschäftigt. Produziert Podcasts, streamt und schreibt Beiträge über Spiele. Manchmal spielt er sie auch.

Das wirft nicht nur die Frage auf, was man tun oder wer man sein müsste, um zehn Punkte in einer Kategorie zu erhalten. Es eröffnet auch eine unangenehme Hierarchie zwischen unterschiedlichen Personengruppen, die dazu verdammt ist, ekelhafte Ergebnisse zu produzieren. Ist ein koreanischer Hintergrund mehr wert als ein indischer? Gibt es für Race etwa mehr Punkte, je dunkler die Hautfarbe ist? Da kommt man an der Vorstellung von einem weißen Dude, der Zahlen auf Hautfarben klebt, kaum noch vorbei. Es ist unangenehm. Es ist merkantil und es ist im wahrsten Sinne des Wortes vermessen. 

Es scheint kein bloßer Zufall zu sein, dass die Quantifizierung wesentlicher Kategorien des Menschseins ausgerechnet einem großen Software-Unternehmen in den Sinn kommt. Die Vermutung liegt nahe, dass entweder blinde Ignoranz dahinter steckt oder eine eine allzu gegenwärtige Verwertungslogik, die endgültig über die Stränge geschlagen hat. Activision-Blizzard ist vom Vorübergehen der Zahlen so wild geworden, dass sie hinter tausend Zahlen keine Menschen sehen. Eher stellen die Erbsenzähler einem sozialen Problem eine Softwarelösung entgegen als die eigene Firmenkultur zu hinterfragen.

Overwatch-Heldin Ana, eingeordnet im Divesity Space Tool | Bild: Activision-Blizzard
Overwatch-Heldin Ana, eingeordnet im Divesity Space Tool | Bild: Activision-Blizzard

Der Ursprung war ein ganz anderer: Workshops 

Selbst mit der Vorstellung von Activision-Blizzard als Evil Corporation, die man in einem Comic mit Blitzen über dem Dach zeichnen würde, konnte ich die Frage nicht ganz abschütteln: Wie konnte es soweit kommen? Welcher Highway hat in diese Hölle geführt? Dann stieß ich auf ein Video von der Game Developer Conference 2017.

Kiki Olofsson und Kristin Adolfsson von King stehen vor einer Gruppe von Spiele-Entwickler*innen. Auf der GDC gibt es viele Workshops, ihrer heißt “Crush the Norm.” Olofsson ist Senior Studio Art Director für Candy Crush, ihre Kollegin ebenfalls Art Director bei King. Die beiden Frauen sprechen über Vielfalt in Games und über eine neue “Diversity Space Method”, die sie entwickelt haben. Nach einer kurzen Einführung händigen sie den Teilnehmenden Zettel und Stifte aus. Die Entwickler*innen sollen in einem Diagramm einzeichnen, wie weit bekannte Videospielfiguren von der Norm – also den am häufigsten repräsentierten Merkmalen – im westlichen Markt abweichen. Die Workshopmethode soll den Teilnehmenden helfen, implizite Normen zu hinterfragen und zu reflektieren wie vielfältig die jeweiligen Sets von Figuren sind. Verschiedene Gruppen präsentieren ihre Ergebnisse, zum Beispiel zu Prinzessin Peach und Super Mario. Einige sind sichtbar verunsichert über ihre Einordnungen, nicht allen fällt das Thema leicht. Die Teilnehmenden tauschen sich mit Olofsson und ihrer Kollegin aus. Es herrscht Workshop-Atmosphäre und wird genau dadurch getragen: Dem Austausch der Teilnehmenden untereinander.

Das Diversity Space Tool war also nie als Lösung konzipiert, sondern als Methode. So macht es Sinn: Das Design von Figuren zu betrachten und Normen zu reflektieren, kann Gespräche anstoßen und Awareness schaffen. Das Vorgehen muss dafür nicht perfekt sein. Es kann sogar selbst in Frage gestellt werden und Raum dafür öffnen, neue Lösungen zu entwickeln.

Verortung verschiedener Figuren mit dem Diversity Space Tool | Bild: Activision-Blizzard
Verortung verschiedener Figurengruppen mit dem Diversity Space Tool | Bild: Activision-Blizzard

Dann ging doch alles schief 

Die Methode von Olofsson kam nicht nur mit Zetteln und Stiften, sondern als Paket, das mit Bildungsinhalten geschnürt wurde. Teilnehmende bekamen Inputs, konnten sich miteinander austauschen und ihre Ergebnisse diskutieren. Die Idee war nicht schlecht  – und sie kam auch gut an.

Berichten von Beteiligten zufolge ist das Feedback zu den Workshops so positiv gewesen, dass man sich dazu entschlossen hat, eine digitale Version zu entwickeln. Dazu hat King sich an das MIT in Boston gewandt – und bekam Unterstützung von Mikael Jakobsson und seinem Team vom MIT Game Lab. In einem Forschungsbericht von 2019 schreiben die Wissenschaftler, dass es ihr Ziel bei der Entwicklung des Tools war, dass die Benutzer*innen “sich lange genug mit dem Design einer Figur befassen, um einen tiefergehenden Reflexionsprozess anzustoßen.” Genau wie in den Workshops von Olofsson und ihrer Kollegin.

Rückblickend ist das womöglich der Punkt gewesen, an dem die Weichen für das Diversity Tool auf Dystopie gestellt wurden. Die Forscher betonen zwar, dass sie menschliche Expertise für wichtig halten, wenn es um Themen von Vielfalt und Inklusion geht. Dennoch geht aus dem Bericht hervor, dass das Workshop-Konzept mit dem Wechsel ins Digitale über Bord ging.

Noch keine Teaserbox ausgewählt

“Da diese Version ohne Moderator*innen funktionieren sollte, die Dinge aufgreifen und problematisieren können, haben wir ermöglicht, dass Charakterdesigns geteilt und kommentiert werden können.”

Kommentarfunktion statt Fortbildungen? In meinem Hang, mir die Entscheidungsträger bei Acitvision-Blizzard wie Comic-Bösewichte vorzustellen, hätte ich jederzeit damit gerechnet, dass sie das Thema Vielfalt einem Computerprogramm überlassen. Worauf ich nicht vorbereitet war: dass ein Forschungsteam vom MIT auf dieselbe Idee kommt. Vor diesem Hintergrund scheint auch Activision-Blizzards Update nicht mehr glaubhaft, „diskutieren, bilden, beraten und zusammenarbeiten“ sei weiterhin Teil des Prozesses.

Mit einem Satz sollen die Forscher Recht behalten: “das Tool kann noch immer missverstanden werden, besonders von Usern, die einen Hang dazu haben, die Welt um sich herum zu operationalisieren und zu quantifizieren.”

Für Vielfalt gibt es keine Softwarelösung

Die Diversity Space Method, wie sie anfangs noch hieß, war nicht die Lösung selbst, sondern ein Werkzeug, um daran zu arbeiten. Mit einem Hammer kann ich Holz vernageln, ich kann aber auch Fensterscheiben zerschlagen. Wie ich ein Werkzeug verwende, macht den Unterschied zwischen Eigenheim und Trümmerfeld. Entscheidend waren nie die Diagramme, sondern der Wille, ein Haus zu bauen, in dem Vielfalt einen Platz hat. Es war die Bildungsarbeit, die solche Prozesse anstoßen konnte. Ich fürchte, das hat Activision-Blizzard nicht verstanden und – mit Verlaub – die Arbeitsgruppe vom MIT auch nicht so ganz. Und was heute davon übrig geblieben ist, kann man überhaupt nicht mehr verstehen.

Für Vielfalt gibt es keine Softwarelösung. Wir brauchen Menschen, die sich in ihren Unternehmen für Werte einsetzen, die sich nicht allein in Zahlen ausdrücken lassen. Diese Arbeit dürfen wir nicht unseren Werkzeugen überlassen, wir müssen sie selbst tun.

39 Kommentare


Kommentare

  1. Avatar for Jagoda Jagoda says:

    Ich liebe diese Geschichte! Danke @Gamepsychologe!

    Sie illustriert wunderschön, wie aus einer vermeintlich löblichen Idee mit dem richtigen zahlengetriebenen Dreh und ein paar Controller-Fuzzis mit Hang zu Excel ein verachtenswerter Mensch-Maschine-Fuck-Up wird.

    martin freeman sherlock GIF by BBC

  2. Avatar for Lyra Lyra says:

    Sehr schöner Artikel :+1:

  3. Avatar for KaFour KaFour says:

    Erstmal Stilkritik:

    Sehr geile Formulierungen! Hätte ich jemals das Vorurteil gehabt, dass Geisteswissenschaftler furchtbar formulieren, dann wäre es hiermit auf schönste ausgeräumt worden :slight_smile:

    Aber auch inhaltlich ein cooler Artikel. Lediglich hinten raus ein wenig dünne, verständlicherweise: Eine wirklich gute Lösung, wie man mehr Diversität (oder auch nur mehr Gleichberechtigung) tatsächlich in der Praxis hinkriegt, hat ja wohl noch niemand gefunden.

    Fieses Gedankenexperiment: Wenn man den letzten Satz statt auf Vielfalt auf Gleichberechtigung bezöge, klänge der so:

    Für Vielfalt Gleichberechtigung gibt es keine Softwarelösung. Wir brauchen Menschen, die sich in ihren Unternehmen für Werte einsetzen, die sich nicht allein in Zahlen ausdrücken lassen. Diese Arbeit dürfen wir nicht unseren Werkzeugen der Quote überlassen, wir müssen sie selbst tun.

    Klingt wie etwas was Procter+Gamble (place name of evil mega cooperation of choice here) sagen würde, um keine Quote einführen zu müssen…

    Anders gesagt: gute, schlaue (und am besten nöch schöne) Menschen die das richtige tun sind natürlich immer der Königsweg. Aber wenn das nicht reicht: braucht es dann vielleicht doch Excel-konrollierbare controlling-taugliche Maßnahmen? So wie bei der Quote auch? Im Sinne von: wenn’s anders nicht geht, muss man halt messbare Kriterien einführen. Selbst auf die Gefahr hin, dass die Kriterien im Einzelfalle danebenliegen?

    Ich hab’ keine Antwort.

  4. Avatar for Bonito Bonito says:

    Wtf. Ein Tool, um eine Abweichung von der ‚Norm‘ darzustellen und das Ganze dann auch noch irgendwas mit Diversity zu nennen, ist schon sehr perfide. Und dumm. Danke für diesen Artikel!

  5. Avatar for Adrian Adrian says:

    Die idee ist da wohl dahinter, dass man es objektiv bewertet. Das Problem das ich halt sehe ist eben genau das angesprochenen, welcher ethnische Hintergrund dann mehr Wert ist.

    Ich verstehe da nicht was das für einen Mehrwert bringt, weil eigentlich will ich doch wissen was unterrepräsentiert ist und würde somit wissen wollen wo die Lücken überhaupt sind. Da hilft das tool dann gar nicht mehr.

  6. Avatar for Bonito Bonito says:

    Das Problem bei der ganzen Geschichte ist, dass es eine Vorstellung von einer ‚gesellschaftlichen Normalität‘ gibt und Schwarze, Fremde, Frauen, Behinderte etc. (und für nichts anderes stehen ethnicity, culture, sex, ability etc.) von dieser Normalität für einige Entwickler offenbar dermaßen abweichen, dass man ihnen in Workshops klar machen muss, dass die Mehrheitsgesellschaft eben nicht aus einem arisch-stereotypen Abziehbild besteht, sondern dass die Hälfte von uns Frauen sind, die Mehrheit sogar tendenziell älter ist, wir in einem einzigen Mischmasch aus verschiedenen Kulturen mit tausend unterschiedlichen Definitionen dessen leben, was Kultur überhaupt ist und dass wir alle ganz unterschiedliche ‚abilities‘ haben.
    Und da ist es vielleicht ein irgendwo im Ansatz nett gemeinter, aber fürchterlich daneben gegangener Versuch, alleine schon mit einer Grafik anzufangen, die diese ‚Normalität‘ ins Zentrum stellt. Das ist keine Objektivierung, das ist ein Tool, das bereits in seiner Operationalisierung (ich entlehne das jetzt einfach mal aus der Statistik) das ursächliche Problem überhaupt nicht in den Blick nimmt, sondern stattdessen einfach diese Abweichung von der immer noch angenommenen Norm zu einem Zielwert erklärt.
    Im Endeffekt kommuniziert man damit, ‚hey, wirf ma ne Schippe Diversity in dein character design, wir wissen ja alle was normal ist, aber hey, mach aus deiner Lara Croft ne schwarze Lesbe mit ethnorastadreads und tribal tattoos, dann biste voll divers und brauchst nicht anfangen über die Stereotype in deinem Kopf nachzudenken‘
    Und das hat mir objektiv nichts mehr zu tun, das ist im Endeffekt positive Diskriminierung.
    Ja, ich weiß, das war ursprünglich bestimmt nicht die Absicht und ich finde an dem Artikel hier auch gerade gut und wichtig zu lesen, wie sich letztlich der absolute bullshit aus dem gut gemeinten, aber vielleicht bereits suboptimalen Denkansatz entwickelt hat - klar, vielleicht kann man diese Grafik sogar gut anwenden um DesignerInnenn anhand bestehender Designs die Fokussierung auf den rassisch perfekten Idealbürger vor Augen zu führen, aber spätestens im Anschluss daran muss man in die Diskussion über das stereotype Kopfkino in uns Allen gehen. Einfach ne Büchse Diversity™ hilft da nix.

  7. Ist dieses Diversity Tool ein (verpäteter) Aprilscherz? Ich kann mir irgendwie nicht vorstellen, dass es wirklich existiert; als Aprilscherz bzw. „Parodie“ einer Denkweise / eines Trends jedoch zwar grenzwertig, aber fast schon genial. Facepalming und Fremdschämen bis es wehtut.

    Wenn man nur all diese Energie in die Eindämmung von Massentierhaltung (insbesondere Geflügel) stecken würde, wäre die Welt ein soooo viel besserer Ort!

Setze die Diskussion fort auf community.wasted.de

31 weitere antworten

Teilnehmende

Avatar for SolK Avatar for Bonito Avatar for KaFour Avatar for christianschiffer Avatar for RogueMike Avatar for kannjanichwahrsein Avatar for Lyra Avatar for Jagoda Avatar for Rob Avatar for Nora Avatar for system Avatar for Roper Avatar for Adrian Avatar for Hallstatt Avatar for Faehrmann Avatar for TAR Avatar for Gamepsychologe Avatar for kuijs Avatar for Warumauchnicht