Alle zwei Wochen setzt sich Rainer Sigl an seine Tastatur und schreibt dir einen Brief. Ja, dir. Es geht um die großen, wichtigen, letzten Dinge: Sex, Tod, die Liebe, das Leben, den Sinn des Ganzen. Und um Videospiele. Große, kleine, teure, obskure, die Menschen, die sie machen, kritisieren, spielen und lieben. Kurzum: Es geht ans Eingemachte. „Brief und Sigl“ ist eine Depesche aus dem Ludoversum.
Wien, 20.05.2022
Liebe Leserin, lieber Leser,
vielleicht hast du es ja ohnedies mitbekommen: Activision Blizzard hat gerade nicht unbedingt den besten Lauf. Nach einer ganzen Reihe an unerfreulichen Nachrichten in Sachen Mobbing und Sexismus am Arbeitsplatz war die Geschäftsleitung vermutlich deshalb umso stolzer, endlich mal etwas Positives präsentieren zu dürfen.
Weißt du noch, als Spielehelden immer so circa 1,85 Meter große, weiße, dreitagebärtige Heteromänner im besten Alter waren und sich irgendwie langsam ein Murren im nicht unbedingt 1,85 Meter großen, nicht immer weißen, meist gar nicht dreitagebärtigen und zunehmend auch nicht selbstverständlich Heteromännerpublikum im besten Alter auszubreiten begann? Okay, vermutlich weißt du es noch, denn das ist nicht rasend lang her. Die längste Zeit dachte man etwa unter anderem, Weibsvolk zu animieren sei einfach zu schwierig, und deshalb, klar, wären nebensächliche Minderheiten wie Frauen, PoCs, nicht-heterosexuelle oder, was ist das denn schon wieder, nicht-binäre Menschen einfach mitgemeint, wenn Marty McShotgun die Schnitte/das Vaterland/das Königreich/das Universum rettet und sich dabei mit stählernem Blick über den blonden Dreitagebart streicht.
Ich schweife ab, weil: alles Schnee von gestern, Lektion gelernt, alles neu. Und zwar dank TECHNIKTM. Die cleveren Jungs aus der Entwicklungsabteilung von King, Candy Crush-Erfinder und Teil des ActiBliz-Imperiums, hatten da etwas in der Schublade, das einen genialen Shortcut hin zu mehr Diversität garantieren sollte. Nein, Dummerchen, nicht etwa, dass man die eigenen Teams mit Menschen aus unterschiedlicheren Demografien, Identitäten und Backgrounds einstellt, also etwa zum Beispiel: mehr Frauen, PoCs, nicht-heterosexuelle oder, was ist das denn schon wieder, nicht-binäre Menschen, deren Diversität sich dann in der eigenen Unternehmenskultur und darauf in den Produkten niederschlagen könnte. Sondern mit einem Tool.
Kurz gesagt: Das Tool sollte durch Aufschlüsselung und visuelles Mapping „relevanter“ diesbezüglicher Merkmale sozusagen Diversität sichtbar machen, um so die Erstellung „diverser“ Charaktere zu vereinfachen. Was soll schon schiefgehen?
Aber wer hätte ahnen können, dass die staunende Öffentlichkeit auf Diagramme, auf denen absolut unproblematisch quantifizierbare Eigenschaften wie „Ethnizität“, „Kultur“, „Body Type“, „Sexuelle Orientierung“ und „Gender Identität“ mit Zahlen von 1 bis 10 eingetragen werden, gleich so eingeschnappt reagieren würde? Dabei war die Absicht doch löblichst: dem 1,85 Meter großen, weißen, dreitagebärtigen Heteromann im besten Alter – im Diagramm der Einfachheit halber wohl in der Mitte, sozusagen als Default vorstellbar – endlich diversere Figurenoptionen zur Seite zu stellen.
Ich für meinen Teil wäre ja entzückt, wenn dieses leider nur intern verfügbare, von Activision Blizzard nach Aufkommen leichten Murrens hastig in der eigenen Entwicklungsarbeit relativierte Tool zum Beispiel Standard in allen Rollenspielen wäre, in denen ich meinen eigenen Charakter erstellen kann. Was heißt dann etwa „Sexuelle Orientierung“ auf 5? Ein bisschen bi? Was käme dann wohl raus, wenn man alle Regler auf 10 drückt? Fettleibiger Trans-Maori um die 50? Lesbischer Albino-Aboriginal-Teenager im Rollstuhl? Stockschwule magersüchtige Rastafari-Oma? Marty McShotgun mit blondem Dreitagebart hätte ausgeschissen, die Diversität wäre gewissermaßen per Schieberegler garantiert und endlich hätte die woke Cancel-Crowd einmal nichts zu meckern. Oder?
Wie Patricia Hernandez in ihrem vernichtenden Kommentar zur Causa auf Kotaku sagt: Das Erschütterndste an der Sache ist nicht einmal unbedingt die Existenz eines solchen Tools, sondern dass bei Activision Blizzard sich niemand gefunden hat, der die Idee, das ganze Ding mit stolzgeschwellter Brust an die Öffentlichkeit zu bringen, ernsthaft hinterfragt hat. Niemand, der nachgehakt hat, ob das WIRKLICH eine gute Idee ist.
Die Antwort auf die Frage, warum bei Activision Blizzard niemand den Backlash, die Häme und die herbe Reaktion auf die Bewerbung des „Diversity Tools“ vorausgesehen hat, ist einfach. Videospielentwicklung, mehr noch: die Leitung eines millionenschweren Tech-Unternehmens, das in der Videospielbranche sein Geld verdient, ist nach wie vor Sache eines kleinen, extrem homogenen Personenkreises aus weißen, gebildeten, heterosexuellen, wohlhabenden westlichen Dudes mit Tech- oder Business-Studium. Die haben in Wirklichkeit mit ihrem globalen Publikum oder auch nur mit der Welt außerhalb ihres sehr speziellen westlichen High-Finance-Tech-Bro-Mikrokosmos wenig gemeinsam; das fällt ihnen nur in ihrer Bubble aus anderen weißen, gebildeten, heterosexuellen, wohlhabenden westlichen Dudes mit Tech- oder Business-Studium meist nicht rasend akut auf. Dass diese Crowd sich nebenbei gesagt in ihren eigenen Eskapismusfantasien selbst am allerliebsten als circa 1,85 Meter große, weiße, dreitagebärtige Heteromänner im besten Alter imaginiert, müssen wir nicht weiter ausbreiten.
Diese Gleichförmigkeit ist für die Firmen problematisch, weil sie sich inzwischen, ja, doch, durchaus negativ aufs Geschäft auswirkt, und allein DESHALB wird’s jetzt ernst. Inzwischen kaufen auch Menschen Spiele und DLCs, die dem Default des weißen, gebildeten, heterosexuellen, wohlhabenden westlichen Dudes mit Tech- oder Business-Studium nicht mehr ganz so exakt entsprechen, wie das vor 20, 30 Jahren noch der Fall war. Und die Spiele, vor allem jene, die richtig viel Produktionsbudget verschlingen und deshalb nicht nur ein bisschen, sondern SEHR profitabel sein müssen, können es sich nicht mehr leisten, den haushoch überwiegenden Teil der Menschheit unter „Diverses“ abzulegen, der eben, blicken wir der Wahrheit ins Auge, nicht männlich, weiß, gebildet, heterosexuell, wohlhabend oder auch nur westlich ist. Vom Studium ganz zu schweigen.
Kurzum: Das Hauptproblem bei Clusterfucks wie diesem ist die nach wie vor erdrückende Homogenität der globalen Tech-Kaste. Solange es etwa, plausibel geschätzt, dreimal mehr Menschen mit dem Vornamen „John“ in der Branche gibt als Frauen, bleibt Diversität als avisierter Verkaufsbooster letztlich nur ein Marketing-Gag.
Und nein, es gibt nicht für jedes komplexe menschliche Problem eine technische Lösung. Hin und wieder reicht es nicht, im Code an einzelnen Parametern zu schrauben. Hin und wieder muss man dafür die ganze Kultur ändern. Und die Tools dafür gibt’s nicht zum Download.
Dein
Schöner Newsletter. Leider habe ich den Fehler gemacht, die Kommentare unter der News bei ComputerBase zu lesen. Ach ja, ich lerne es wohl nie, immerhin habe ich dafür 13 Herzen gesammelt
Das ist mein erster Beitrag hier, ich hoffe, dass das formal alles in Ordnung ist.
„Die Leitung eines millionenschweren Tech-Unternehmens, das in der Videospielbranche sein Geld verdient, ist nach wie vor Sache eines kleinen, extrem homogenen Personenkreises aus weißen, gebildeten, heterosexuellen, wohlhabenden westlichen Dudes mit Tech- oder Business-Studium. Die haben in Wirklichkeit mit ihrem globalen Publikum oder auch nur mit der Welt außerhalb ihres sehr speziellen westlichen High-Finance-Tech-Bro-Mikrokosmos wenig gemeinsam; das fällt ihnen nur in ihrer Bubble aus anderen weißen, gebildeten, heterosexuellen, wohlhabenden westlichen Dudes mit Tech- oder Business-Studium meist nicht rasend akut auf.“
Ich habe mir eben das unter Activision Blizzard | Board of Directors die Leitung von Activision-Blizzard angeschaut, und die obige Aussage über deren Identität ist falsch. Das wäre ja nicht so schlimm, wenn diese nicht integraler Bestandteil der Argumentation wäre. Über den postulierten biologischen Determinismus, dass weiße Männer nie in der Lage sind, Empathie für andere Menschen zu empfinden, braucht man kein weiteres Wort zu verlieren, denn der Autor widerlegt das mit seiner eigenen Existenz.
Man kennt das ja, wenn Leute sagen, dass sie Migrationshintergrund haben, weil die Mutter Niederländerin ist: Das sei doch kein „richtiger“ Migrationshintergrund, denn man sei ja trotzdem weiß, und am besten auch noch in Köln-Lindenthal geboren. Dann kommt eine andere, deren Mutter ist zwar auch Niederländerin, aber aus Surinam, und sie ist auch noch in einer Hochhaussiedlung bei Amsterdam geboren, und schon merkt man, dass man in Gedanken all diese Berechnungen vollzieht, für die es jetzt dieses praktische Tool gibt.
Ich denke, dass es zur Zeit immer auf dasselbe hinausläft: die Identitätspolitik führt zur Warenförmigkeit von Race und Gender, worauf dann die kapitalistische Ausbeutung folgt. Die IdentitätspolitikerInnen nennen es dann in falschem Siegestaumel Repräsentation o.ä. Dafür gibt es dann Tools, mit denen man versucht, Identität zu quantifizieren. Schön ist das sicher nicht, aber Quantifizierung ist die Voraussetzung für Bewertung und für den Versuch, identitätspolitische Anforderungen zu erfüllen - unter anderem auch durch Quotenregelungen, die ich prinzipell ja befürworte, die aber wahrscheinlich eines Tages unter der Vielfalt der Identitäten zusammenbrechen werden.
Erstmal Hallo, schön das Du da bist!
Und formal ist alles voll in Ordnung. Mit der Kunst, direkt im ersten Post den Autor des Artikels quasi gleichzeitig zu beleidigen und zu loben (denn der Autor widerlegt das mit seiner eigenen Existenz.). Kann ich Dir schlecht vorwerfen, hab’ ich in meinem allerersten Wasted-Post seinerzeit auch so gemacht (Hallo Fabu!). Leise eintreten kann ja jeder
Fieser aber cooler Gedanke. Zeigt irgendwie schön, dass „Diversitäts-Messungen“ keineswegs auf amerikanische Software-Konzerne beschränkt sind, sondern auch leicht im Kopf von Menschen (oder einem selber) passieren.
Sarkasmus?
Das ist mir jetzt ein bisschen zu sehr die grobe Kelle. Ich glaube nicht, dass es zur Zeit immer auf dasselbe hinausläuft.
Mir reicht es, das hier im Wasted Kontext erstmal nur auf Spiele zu beziehen. Und da würde ich sagen: Mehr Diversität, im Sinne von unterschiedlichen Geschichten aus neuen, anderen Perspektiven macht bessere Spiele. Das stößt aber auf Widerstände und Probleme, sowohl bei den Konsumenten (Spielern), als auch bei den Produzenten (Spieleherstellern). Wie man diese löst ist Gegenstand einer aktiven Diskussion. Und dabei bleibt es nicht aus, dass teilweise auch übers Ziel hinausgeschossen oder dogmatisch argumentiert wird. Gehört halt zur Lösungsfindung dazu. (Dialektik, Hegel, dieses Gedöns) Da muss man nicht alles toll finden, aber immer noch besser als alles beim alten zu lassen.
Merde, ich war in diesem Post im anderen Thread zu dem Thema so stolz, dass mir die (diskussionswürdige) Analogie zwischen Excel-Tool und Frauenquote aufgefallen ist. War ich wohl nicht der einzige mit dem Gedanken
Hallo KaFour!
Ich wollte weder das Eine noch das Andere. Man kann auch „Dasein“ sagen, wenn „Existenz“ abwertend klingt.
Vielleicht Überspitzung, denn es läuft halt auf eine Berechnung hinaus. Ein Spiel, dass Transmänner als Protagonisten hat, wäre dann vielleicht diverser als ein Spiel, dass eine schwarze Frau als Protagonistin hat. Und weiße Mehrheitsgesellschaftsfrauen reichen ohnehin nicht mehr seit Tomb Raider und No One Lives Forever, die sind fertigrepräsentiert. Ich finde diese Denkweise unangenehm, da dadurch zum einen weiße männliche Heterosexualität transzendent und der Kritik entzogen wird - da war man schonmal weiter. Zum anderen entstehen ein Komparativ und ein Superlativ von „divers“ und damit eine Hierarchisierung von Identitäten, wenn ich deutlich machen kann, was ich meine.
Da dieser Identitätsdiskurs nicht aus den Spielen selbst kommt, sondern die Spiele von diesem Diskurs durchzogen werden, denke ich, dass die Beschränkung auf den Spielekontext nicht funktioniert.
Ich bin mir nicht sicher, ob das Spielen einer diversen Figur mit einer Perspektivübernahme gleichzusetzen ist, dafür sind mir Spiele dann doch zu sehr Produkt der Kulturindustrie. Der Kapitalismus stopft jedes Loch, und jetzt verwertet er halt die Diversität. Ich habe aber auch gar nicht den Anspruch, dass ich mich durch das Spielen in andere Identitäten hineinversetzen kann. Selbstverständlich ist Diversität besser als keine Diversität (okay, vielleicht ist das gar nicht so selbstverständlich). Der Anspruch, den ich an Spiele (und an Filme) in diese Richtung (!) habe, ist es aber, herrschende Geschlechter- oder Race-Diskurse emanzipatorisch zu durchbrechen, und dann reicht es nicht, wenn die Protagonistin „divers“ ist - das kann höchstens der Anfang sein, der für viele aber schon das Ende ist. Das mag von mir aus nach abgehobenem Gelaber klingen, aber ich habe ja nicht damit angefangen, Spiele auf postkoloniale Art zu beleuchten.
Das hast Du schön gesagt und ich bin eigentlich auch ein versöhnlicher Mensch. Ich finde allerdings, dass man manches durchaus beim alten lassen sollte, bzw. dass man schonmal weiter war. Ich finde es bspw. einen Fortschritt, wenn ein männlicher, heterosexueller weißer Mann in einem Spiel anders gezeichnet wird als Jack Carver in Far Cry 1 (leider finde ich Far Cry 1 unendlich geil, immer noch, aber das ist ein anderes Thema. Ich mag ja auch Predator.) Allerdings sieht das ein lautstarker Teil des kritischen (im Sinne von zur Kritik fähigen) Publikums heute nicht - das ist das, was ich mit „transzendierende Männlichkeit“ meinte… Nun, ich glaube ich hab viel zu viel geschrieben, das ist ja eine Tortur alles.
Far Cry 1 ist geil! 100% Zustimmung dazu
Für weitergehende schlaue Antworten bin ich aber jetzt zu fertig und will auch keinen weiter langweilen. Deswegen nur
Wenigstens beim wichtigsten Punkt sind wir uns einig!
Hello! Sehe mich nirgends beleidigt, also alles gut. Diese Briefe verstehe ich weniger als analytische Argumentationen, bei denen dann Aussagen wie die genannte sich unbedingt auf das tatsächliche Board of directors beziehen müssen (obwohl ich das verlinkte jetzt auch nicht rasend diverse finde). Vielmehr geht’s mir zugegebenermaßen um Polemik, und die hat IMHO auch dann Berechtigung, wenn die Aussage sich dann nicht konkret an das Personal dieser einen Firma richtet, sondern einen altbekannten Missstand allgemein anspricht.
Abgesehen davon sind wir schon nicht unterschiedlicher Meinung. Das Tool zeigt halt nur überdeutlich auf, wie schwer sich die Branche mit diesem Thema tut.
Abgesehen davon: Far Cry 2 ist natürlich das objektiv einzige gute FC.
Ich schau gerade erstmalig Predator und kann nicht antworten. Aber darüber wird zu reden sein!