Wir sind mit Spielen groß geworden. Jetzt werden in unserem Leben unsere Kinder mit uns groß. Bleibt zwischen Windelwechseln, Krabbelgruppe und Breifütterung überhaupt Zeit zum spielen? Was geben Games uns mit auf dem Weg mit Nachwuchs? Geben wir unsere Liebe zu virtuellen Welten weiter? Hier gibt es Monat für Monat eine Heldinnen-Reise von der Geburt bis zum ersten eigenen Griff zum Controller.

Es ist so schön leise hier, sagt sie. Nur ein paar Vögel singen, die Bäume verschlucken den Lärm  der Stadt. Wir stehen vor dem Grabstein von Oma und Opa. Ich habe eine große Gießkanne in der  Hand, sie eine kleine.  

Eigentlich wollte ich hier, an dieser Stelle, nach Plan weitermachen. Diese Kolumne sollte  chronologisch auf die anderen folgen. Ich wollte über meine zweite Elternzeit schreiben, über  Urlaub und Sonne und Laufen lernen am Strand. Aber ich kann das nicht. Denn für meine Tochter  sind jetzt Tod und Sterben ein Thema. Der Verlust ihrer kleinen heilen Welt. Und für mich auch. 

Als ich das Testmuster zu „Elden Ring“ bekommen habe, am 24. Februar 2022, sind gerade russische Truppen in die Ukraine einmarschiert. Kurz vor dem Überfall hat der russische Diktator Putin eine Rede gehalten, die mich ins Mark trifft. Er sagt, dass die Weltordnung, die Ordnung Europas, mit der ich aufgewachsen bin nach dem Fall der Sowjetunion, nicht mehr gültig sei. Die Ukraine sei gar kein eigenständiges Land, sondern eine Art künstliches Staatsgebilde. Eine Bedrohung, die entwaffnet werden müsse. Ein paar Stunden später beginnt das Töten, das Sterben.

Wie soll ich erklären, wofür es eigentlich keine Erklärung gibt?

Es dauert drei Tage, bevor ich überhaupt mit „Elden Ring“ beginnen kann. Weil es ja gerade so egal ist, oder? Aber ich habe zugesagt, einen Text zu schreiben. Nur ein paar Tage vor dem neuen Spiel von From Software ist auch noch die neue Erweiterung zu „Destiny 2“ erschienen. Eigentlich hätte ich gerade beide Hände voll zu tun, um meine Lieblingsspiele zu spielen. Auf die ich Monate, Jahre gewartet habe. Aber gute Unterhaltung während der Krieg Europa mit Gewalt im Griff hat? Der Tod in der Ukraine lähmt mich. Und nebenbei muss ich auf einmal erklären, warum es den Tod überhaupt gibt.

Angefangen hat alles vor ein paar Wochen. Da liegt vor dem Fenster im Garten ein kleiner toter Vogel. Eine Meise mit dem sanften Gefieder dort im Gras. Das zarte Ding sieht aus, als schlafe es nur. Es ist nicht das erste Mal, dass meine Tochter ein totes Tier gesehen hat. Aber es ist das erste Mal, dass sie ein Lebewesen als sterblich wahrnimmt. Wir sprechen darüber, dass das Vögelchen jetzt tot ist. Was das bedeutet, will sie da noch nicht wissen. Zusammen graben wir in der Wiese ein kleines Loch und beerdigen es. Ein kleines Bündel bunter Federn, das sich nicht mehr bewegt. Und doch bewegt es etwas.

Als wir an einem anderen Tag über unsere Familie reden, fragt sie wo meine Großeltern sind. Ich erkläre ihr, dass sie auch gestorben sind. Beerdigt, wie der kleine Vogel im Garten. „Wir können sie besuchen“, sage ich ihr. „Und die Blümchen bei ihnen gießen.“ Das möchte sie gerne. Also machen wir uns auf zum Friedhof.

Nun sind sie da, die Fragen. Wer sind die anderen Leute, die hier alle liegen? Warum müssen Menschen sterben? Muss ich auch sterben? Wann? Wie ist das, wenn wir tot sind?

„Ich muss noch nicht sterben, weil ich ja noch ganz jung bin“

„You died“ – die Worte begleiten mich auch abends bei meinen Ausflügen in „Elden Ring“. Mittlerweile habe ich mich in das Fantasy-Reich von Hidetaka Miyazaki und George R.R. Martin fallen lassen. Eine Pause von den Horror-Meldungen, die ich mir sonst beim Doom-Scrolling auf Twitter nicht gönnen will. Eine Pause vom Thema Tod mache ich dabei nicht. Die Vergänglichkeit, das unausweichliche Sterben, der Kreislauf aus Tod und Leben, sind zentrale Bestandteile im Werk von Herr Miyazaki. In seinen Spielen sind sie schmerzhafte Erfahrung und doch immer wieder Startpunkt einer neuen Reise.

Während des Spielens fällt mir ein Zitat von Jean-Luc Picard aus Star Trek ein. In „Treffen der Generationen“ sagt er zu einem Wissenschaftler, der den Tod mit Gewalt überwinden will: „Es ist unsere Sterblichkeit, die uns definiert.“ Die Dinge vom Ende her denken beruhigt mich sonst immer. Vielleicht kann ich das auch meiner Tochter so erklären? Aber was ist mit dem Tod, der nicht durch Alter und Krankheit zu uns kommt? Was ist mit dem Tod, den wir über andere bringen? Wie soll ich erklären, wofür es eigentlich keine Erklärung gibt?

Auf dem Weg zum Spielplatz gehen wir über den Campus der Universität. Wir sprechen über Schule, die Schule, die danach kommt und dann die Schule on top. Meine Tochter erklärt, sie will an die Uni und Tanzen studieren. Oder vielleicht doch lieber Ärztin werden? Dann kommen wir an den Flaggen vorbei, die dort vor dem Gebäude wehen. Was bedeuten die Flaggen? Die schwarz-rot-gelbe? Das ist das Land, in dem wir leben. Und die blau-gelbe? Das ist das Land der Menschen aus der Ukraine. Warum weht die da? Weil wir den Menschen dort gerade helfen müssen. Weil dort viele Menschen ihr zuhause verloren haben. Und warum? Ja, warum.

„Ich muss noch nicht sterben, weil ich ja noch ganz jung bin“, hat meine Tochter mir gesagt, als wir vom Grab ihrer Urgroßeltern über den Weg zum kleinen grünen Tor gehen. Vorbei an den anderen Gräbern. Während ein paar Hundert Kilometer weiter östlich Unaussprechliches geschieht. Das Konzept, dass wir auch sterben können, wenn sich jemand entschließt, uns Gewalt anzutun, ich kann es ihr hier und jetzt nicht erklären. Wäre das zu früh? Ich denke ja. Aber es ist eine Gewissheit, dass meine Tochter in dieser Welt aufwächst, in der das Friedensversprechen meiner Kindheit nicht mehr gilt.

Christian Neeb

War früher Redakteur beim GEE Magazin, bei der Fernsehsendung Reload und beim Spiegel. Heute wechselt er Windeln, kocht Nudeln mit roter Soße, liest Geschichten vor und schreibt nebenbei als freier Autor.

„Your light fades away“ – mittlerweile sind zwei Monate vergangen, seit Russland begonnen hat, unendliches Leid über die Menschen in der Ukraine zu bringen. Ich bin abends lange in die Lands Between von „Elden Ring“ geflüchtet vor dem Dauergrauen der Nachrichten. Nun reise ich wieder mit meinem Raumschiff durch unser Sonnensystem in „Destiny 2“. Während Menschen ihre Heimat, ihre Familien, ihr Leben mit Waffen verteidigen müssen gegen ein brutales Militärregime, verteidige ich eine digitale Fantasiewelt gegen digitale Fantasiemonster.

Wie albern das ist. Und doch ist es mir gerade wichtig, dieses bisschen Eskapismus am Abend. Die Flucht in eine digitale Welt in der ich etwas am Unrecht ändern kann, Wirkungsmacht habe. Nicht wie in der Welt, in der ich Zuschauer bin, ohnmächtig, außer die Heizung runter zudrehen. Irgendwann werde ich mit meiner Tochter über diese Welt reden, die auch die ihre ist. Was ich ihr über den Tod sagen werde, den wir über andere bringen? Ich weiß es noch nicht.

3 Kommentare


Kommentare

  1. Großartiger Text!

  2. Ich fühle mit. Die graue jetzige Zeit wird noch unerklärbarer mit kleinen Kindern.

  3. Vielen Dank für den tollen Text und die gesamte Kolumne. Als frisch gebackener Vater mit der anfänglichen Sorge in den nächsten 18 Jahren nie wieder ein Spiel spielen zu können, freue ich mich auf jeden Artikel. Ich bin allerdings froh, dass ich meinem Kind dieses Thema aktuell noch nicht nahe bringen muss und hoffe, dass die Welt in ein paar Jahren wieder etwas mehr nach Kirby statt nach Elden Ring aussieht.

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