Cyberpunks dead

Und das schon seit gestern.

Alle zwei Wochen setzt sich Rainer Sigl an seine Tastatur und schreibt dir einen Brief. Ja, dir. Es geht um die großen, wichtigen, letzten Dinge: Sex, Tod, die Liebe, das Leben, den Sinn des Ganzen. Und um Videospiele. Große, kleine, teure, obskure, die Menschen, die sie machen, kritisieren, spielen und lieben. Kurzum: Es geht ans Eingemachte. „Brief und Sigl“ ist eine Depesche aus dem Ludoversum.

Wien, 06.08.202

Liebe Leserin, lieber Leser,

Iro, Dosenbier, Sicherheitsnadeln in der Nase, Anarchie als Lifestyle, DIY-Kultur und Randale gehören seit 40, 50 Jahren ebenso zum Gesellschafts- und Popphänomen Punk wie die Beteuerung, dass man noch am Leben sei. „Punks not dead“, seit mindestens 1981, als The Exploited das als Titel ihrer Platte hinrotzten. Und irgendwie muss man widersprechen, wie immer, wenn sich der große, fette Mainstream einen seiner irgendwann mal wilden Nebenarme gründlich einverleibt: Naja, doch, ein bisschen tot ist Punk schon. Und das schon lange.

So ist das halt, wenn rebellische Subkulturen memetisch erfolgreich sind. Dagegen sein wird irgendwann so cool, dass es nicht mehr cool ist. The Hipster-Dilemma, als ewiges Karussell des Kapitalismus, der sogar der Totalverweigerung noch Merch abringt. Ich möchte Teil einer antikapitalistischen Jugendkultur sein – was genau muss ich dafür kaufen?

Was hat das alles mit Videospielen zu tun? Jede Menge, aber eigentlich geht’s mir nicht ums endlich erreichte mediale Stagnieren in der Mitte der Gesellschaft. Sondern zuerst mal um Katzen.

Ja, genau: Katzen, oder besser gesagt, diese eine, kleine, rote Katze, nach der diesen Sommer alle verrückt sind. „Stray“ ist ein kleines Phänomen, und eigentlich wundert mich nur, dass sich jemand darüber wundert. Leute, es ist eine Katze – klar, dass der Beifall und die Begeisterung stürmisch ausfallen, denn Katzen sind sowas wie das ultimative Opium fürs digitale Always-Online-Doomscroller-Volk, seit uns die LOLCats damals in den 1870er-Jahren das erste Mal zum Doofgrinsen gebracht haben. 1870er. Yes, rly.

Die Katze in „Stray“ bewegt sich nun durch eine Welt, die irgendwie im Kontrast zu ihrer felinen Natürlichkeit steht, denn, logo, das Faszinierende an Katzen im Vergleich zu Hunden oder anderen Menschentieren ist ihre Eigenwilligkeit, ihre Sturheit und ihr Verweilen außerhalb unserer Kontrolle. Dass man in „Stray“ so einen Stubentiger selbst steuert, ist so gesehen irgendwie paradox, ich würde deswegen für die ultimative virtuelle Sadomaso-Katzen-Herrchen-Beziehung eher „The Last Guardian“ empfehlen, in dem das Vieh NIE das macht, was man gerne hätte. Aber das nur nebenbei.

Die Welt von „Stray“ ist nun eine dystopische, ohne Menschen, aber doch von ihnen  gebaut und hinterlassen: Ein dicht gedrängter, asiatisch konnotierter hyperurbaner Betondschungel, voller Neonröhren, abgefuckter Ecken, Hightech-Schrott und abgeplatztem Putz, endlosen Kabelstrangsschlangen, die sich in engen Gassen zwischen Klimaanlagen-Erkern winden, und Robotern mit chinesischen Outfits. Kurzum, die Welt von „Stray“ ist das wiederauferstandene Traumbild der berühmten Kowloon Walled City, und dieses längst abgerissene Stück Großstadt-Slum ist Popkonsumenten in tausend ikonischen Ableitungen wohlbekannt. Seine Reflektion erkennt man in „Blade Runner“ ebenso wie im Sprawl der Bücher William Gibsons, und in den Achtzigern, als die US of A und mit ihnen die ganze „westliche Welt“ bange auf den unheimlichen Aufstieg Japans als wirtschaftliche Supermacht blickten, waren diese Bilder ein Blick in eine klamme Zukunft. „Die Zukunft ist da, sie ist nur nicht gleichmäßig verteilt“, passt da als ewiges Gibson-Zitat perfekt rein.

Klar ist das alles problematisch, denn mal ehrlich: Die Faszination für diese Zukunft zwischen Neon, Ramen und Hightech-Samurai ist klassischer kolonialistischer Orientalismus. Das ach so fremde, exotische Asien zwischen Mythos und Zukunft ist und bleibt meist nicht mehr als Tapete, vor der sich – sowohl in „Blade Runner“ als auch in Gibsons den literarischen Cyberpunk begründenden Romanen – weiße Dudes zu behaupten haben. Kein Wunder, dass Sisi Jiang „Stray“ auch folgerichtig und analog genau das vorwirft: Auch das Katzengame tappt in die Orientalismusfalle des Cyberpunk.

Höchste Zeit, liebe Leserin, lieber Leser, den argumentativen Slide hinzulegen wie Kaneda in „Akira“: Kollege Daniel Ziegener hat „Stray“ attestiert, der Endpunkt der Entpolitisierung von Cyberpunk zu sein; ich halte dagegen – da gab’s schon lang nichts mehr zu entpolitisieren. Cyberpunk, als vor 40 Jahren aktueller Ideenkomplex der Science-Fiction, der eben den Nihilismus und die Anarchie des Punk mit dystopischer Near-Future-Gesellschaftskritik zusammenbrachte, war schon in den Achtzigerjahren am Ende, irgendwie vielleicht einfach auch ein Opfer seiner eigenen ästhetischen Wuchtigkeit.

Die exotischen Bilder eines für westlichen Blick futuristisch-fremden Asiens aus Neon, Slums und Hightech-Fantasien waren ein Pop-Sehnsuchtsraum, der von einer neuen Kaste Nerds begeistert aufgenommen wurde. Der West-Coast-Techno-Optimismus bekam dadurch seinen wildromantischen Goth-Flügel spendiert. Und siehe oben: Wenn rebellische Subkulturen memetisch erfolgreich sind, werden sie zum Mainstream. Was übrig bleibt, sind Oberfläche, Nostalgie und Neonkitsch.

Rainer Sigl

Schreibt und spricht seit 2005 (nicht nur) über Videospiele. Lebt in Wien.

Das heißt nun im konkreten Fall nicht, dass „Stray“ inhaltsleer wäre – es hat als sentimentaler Apokalypsenepilog aber weitaus mehr mit Stanislaw Lems „Robotermärchen“ gemeinsam als mit jenem Genre, aus dem sich das Spiel seinen Orientalismus, Neonreklamen und Hightech-Slum-Ästhetik geliehen hat. Ja, das ist Cyberpunk als Tapete, als Tapete, die trotz ihrer zeitlosen Schauwerte aber, wie oben auf Kotaku verlinkt, auch Ballast aus den 80ern mitschleppt. Macht ja nix. Peinlich wird’s nur, wenn, wie etwa im Fall eines jüngeren Millionen-Bauchflecks mit Cyberpunk im Namen, so getan wird, als wäre abseits des Retrofuturismus-Merch noch die dazupassende, auch schon wieder fast ein halbes Jahrhundert wenig upgedatete Gesellschaftskritik implizit vorhanden. Anarchie sexy! Konzerne böse! Ja, eh.

Dagegen bleiben die Originaltexte aus den 80ern nachgerade erschütternd radikal. „And, for an instant, she stared directly into those soft blue eyes and knew, with an instinctive mammalian certainty, that the exceedingly rich were no longer even remotely human“, wie Gibson seine Heldin in „Count Zero“ , 40 Jahre vor unserer Gegenwart der Popstar-Milliardäre provokant nachdenken lässt. Gedanken wie diese finden sich 2022 kaum in irgendeinem DRM-geschützten Blockbuster des erfolgreichsten Unterhaltungsmediums des Planeten. Face it: Cyberpunk’s dead. Aber die Katze, die ist cool.

Dein

18 Kommentare


Kommentare

  1. Kann ich einfach mal nur zustimmen. Wobei mich der Einstieg an einen Spruch erinnert, der mir neulich auf einem Festival begegnet ist: Punk’s not dead, it just sucks now.

  2. Avatar for Lyra Lyra says:

    Schöner NL, aber:
    Kam der noch nicht per Mail oder hab ich ihn nur übersehen?
    Und was ist mit dem Datum los?
    image

  3. Avatar for Jagoda Jagoda says:

    Urlaubsbedingt mit leichter Verzögerung! Kommt noch :slight_smile:

  4. Avatar for Adrian Adrian says:

    Und deswegen ist es nicht verständlich wieso stray den Gürtel gewinnen sollte.

    Wirklich Mal wieder ein top Text und ich würde mit dem Rainer gerne Mal im. Café Europa oder so einen trinken gehen.

  5. Wobei die Klage darüber, dass eine bestimmte kulturelle Nische sich von ihren Wurzeln entfernt habe, nicht mehr radikal sei, sogar - Oh Schreck! - im „Mainstream“ angekommen sei, selbst etwas geradezu rührend konventionelles hat…

  6. Geschenkt, aber da darf wohl ein wenig differenziert werden. Das Thema ist ja nicht, dass Cyberpunk im Mainstream angekommen sei und früher™ alles besser war, das wäre er in Sachen (Werbe-)Ästhetik ja schon vor 40 Jahren. Wenn du Black Rain von Ridley Scott ansiehst, hat der die 1:1 gleiche Ästhetik wie Blade Runner, nur ist es kein SF-Film, sondern ein (ziemlich xenophober) Thriller mit exotischem Japansetting. Es geht mir eher um die - eben auch schon wieder 40 Jahre alte - fortgesetzte völlige Entkernung einer kurzzeitig relevanten Undergroundbewegung bei gleichzeitig wachsendem Massenappeal.

    Ja, auch das Lamento ist nicht wahnsinnig originell, aber die allgemeine Verwechslung der Oberfläche mit ihren ursprünglichen Inhalten scheint mir hier doch interessant. Siehe letzter Absatz: Die Radikalität der Gründungsväter des Genres kann man schon mal hin und wieder in Erinnerung rufen. Cyberpunk hätte zeitgemäß jede Menge zu sagen, die meisten Spiele/Filme mit CP-Ästhetik sind dagegen lähmend konservativ. Aktuelle SF trägt die Gesellschaftskritik ganz ohne Neon-Ninjas weiter, nur beschwört die genannte Ästhetik der 80s-Nostalgie eben nicht zugeich deren Inhalte und Aussagen mit herauf. Funktional ist wenig Unterschied zwischen Cyberpunk 2077 und einem Gucci-Shirt um 800$ mit „Anarchy“-Aufdruck. „Stray“ liegt irgendwo dazwischen, weil es inhaltlich zumindest vom bequemen Noir-Zynismus Abstand hält.

  7. Merci! irgendwann mal, why not :wink:

  8. Avatar for Adrian Adrian says:

    Es gab doch hier auch noch ein anderen Wiener und der @echtschlecht165 kann auch mal ein Afterwork in Wien machen ehe er wieder rauspendelt :wink:

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