Zahlen lügen nicht: Ich habe kein Spiel in diesem Jahr so oft gespielt, wie das bunte, kitschige Match-3-Spiel Knittens. Ist es ein Erfolg für Netflix als Publisher? Auf keinen Fall. Ist es ein gutes Spiel? Im Gegenteil! Ein Erklärungsversuch.


Wenn Spiele Orte sind, dann ist Knittens ein langer, dunkler Tunnel. Aus der Ferne ertönt Miauen und Fahrstuhlmusik. Im Vordergrund aber hadere ich mit einem widerspenstigen Spielbrett, das mir immer fünf Dinge zeigt, die ich gern machen würde, aber nicht darf. Ich darf in der Ecke des Spielbrettes ein bisschen was verschieben und auf ein Wunder hoffen. Sonst ist die Runde gescheitert, die Zeit endgültig verschwendet. Draußen vor dem Tunnel steht ein Mann und schnauft demonstrativ. Er will, dass ich endlich rauskomme.

Ich bin es selbst

Dem überstrapazierten Quatsch von Über-, Haupt- und Unter-ichs stehe ich eher skeptisch gegenüber. Aber wenn ich Knittens spiele, dann spielt ganz klar nur ein Teil von mir; mein triebhaftes Es. Vielleicht auch mein Rückenmark. Ich mag das Spiel nicht besonders, wenn ich bei vollem Bewusstsein bin. Das wirft die Frage auf, wie ich Level 172 erreichen konnte.

Ich mag das Spiel nicht besonders, wenn ich bei vollem Bewusstsein bin.

Jan Bojaryn

Jan Bojaryn schreibt für Tageszeitungen und Kulturzeitschriften über Videospiele und vergleichbar wichtige Themen.

Das Spiel heißt „Knittens“. Damit ist es hinreichend beschrieben, der Witz ist die komplette Daseinsberechtigung: Knit und Kittens, Häkeln und Kätzchen. Alles an Knittens ist flauschig und süß. Die Buttons sehen wie drangestickt aus, die Pfoten haben keine Krallen, und die zahlreichen Wortspiele sind alle mindestens so platt wie der Titel.

Natürlich geht es eigentlich weder um Stoff noch um Tiere. Nur gelegentlich, ein bisschen. Dann darf ich Farben für ein neues, handgehäkeltes Designerkatzentextil bestimmen und ein paar Stunden warten, bis es fertig ist. Vielleicht ziehe ich es meiner Katze nachher sogar an.

Die Ladebildschirmkatzen sehen besser aus als meine eigenen.
Lass mich bitte in Ruhe, Klops. Ich gehe jetzt schlafen.
Auf diesem Brett darf ich anfangs nur links ein bisschen rumschieben. Knittens macht wenig Spaß.

Meine jüngere Tochter hat das Spiel einmal in die Hände bekommen und zielstrebig ein Outfit mit Bat-Maske und Lederjacke zusammengestellt. Sie fände es wahrscheinlich interessanter, wenn die Katze dann als Superheld in die Nacht hinauszieht. Aber das hier ist nicht Stray Normalerweise sehe ich irgendwelche anderen Outfits in Ladebildschirmen öfter als das meiner Katze. Beim eigentlichen Spiel thront nur ein Portrait von ihr über dem Brett – immerhin mit der aktuellen Kopfbedeckung.

Inventur im Textilshop

Das eigentliche Spiel heißt Candy Crush. Knittens ist ein Match-3-Spiel. Ich muss also immer mindestens drei gleichfarbige Wollknäuel auf einem Raster zusammenschieben, damit sie sich auflösen.

Ich finde Match-3-Spiele nicht unbedingt schlecht. In ihrer Grundform sind sie mir zu simpel, nur eine Fingerbreite von Fidget-Spinnern und Fühlsteinen entfernt. Sowas spielen gestresste Menschen, um sich in einen beruhigenden Flow State zu matchen. Zumindest glaube ich das. Ich bin gelegentlich auch gestresst, aber mich beruhigen solche Spiele nicht.

Manche Match-3-Spiele finden eine brillante Idee, mit der jede Entscheidung schwerer wiegt. In Scurvy Scallywags bewege ich eine Spielfigur durch das Raster, die von Gegnern verfolgt wird. Je nachdem, was ich auflöse, werde ich stärker, oder verdiene Geld, oder ich werde geschnappt, bin noch zu schwach und bekomme eins auf die Mütze. Natürlich auch Puzzle Quest. Ich muss bestimmte Steine auflösen, um einen Gegner im Duell zu hauen, oder zu verzaubern. Die Idee ist einfach gut. Das kann ich immer spielen, wie Tetris.

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Die Wolle ist wie Zuckerwatte

Knittens hat auch Ideen; sie wirken aber wahllos und sind alle nicht neu. Jeder Level blockiert neue Bereiche des Bretts mit Geschenkschachteln oder Schüsselchen oder Schleifchen. Marienkäfer sitzen auf der Wolle, Seife rutscht über das Spielfeld, ausgewachsene Vögelchen schlüpfen aus Eiern, und jedes Mal muss ich mit einer begrenzten Zugzahl etwas anderes auflösen, vielleicht nur die roten Herzen, oder alle Kissen, oder auch mal Seifenblasen. Echte Taktik kommt ins Spiel, wenn ich versuche, bestimmte Vierer- oder Fünfergruppen einfarbiger Steine zu bauen, um gezielt Effekte auszulösen. Das Regenbogenwollknäuel ist am mächtigsten, das löst alle Steine einer Farbe auf. Mein persönlicher Favorit ist das Vögelchen: Es fliegt zu einer Stelle auf dem Spielbrett, wo ich dringend noch etwas auflösen muss.

Es ist Teil der Diversifizierungs-Strategie von Netflix.

So ausführlich hätte ich das gar nicht erklären wollen. Ganz ehrlich: Knittens ist nicht gut. Es ist ein Wollhaufen abgeschauter Spielmechanismen, notdürftig verborgen unter abgedroschenem Cute Content. Es ist irgendwas mit süßen Kätzchen. Es ist Teil der Diversifizierungs-Strategie von Netflix. In der Netflix-App gibt es jetzt den Reiter „Spiele“, und wer da nicht aufpasst, der lädt statt dem allseits gefeierten Poinpy halt Knittens herunter. Ich als professioneller Spielejournalist habe fast alle Apps heruntergeladen und ausprobiert. Mit Poinpy konnte ich nichts anfangen. Jetzt komme ich von Knittens nicht mehr los.

Auch ich finde Solidarität mit der Ukraine wichtig, aber…
So deutlich sehe ich meine kostümierte Katze selten.

Das Spieleoffensivchen

Meine ältere Tochter spielt Bowling Ballers und erzählt mir gelegentlich, was alles Lustiges in dem Spiel passiert sei. Besonders lustig ist es aber nie, das Spiel ist ein Endless Runner mit Bowlingkugeln. Wenn ich nicht selbst Knittens spielen würde, könnte ich ihr sagen, dass sie damit doch nur Zeit totschlägt, ob sie nicht vielleicht etwas Gehaltvolleres spielen will.

Einige der Titel sind interessanter, gehören für mich aber nicht aufs Handy. Before Your Eyes wollte ich immer schon einmal spielen, aber vielleicht lieber in Ruhe vor dem PC. Moonlighter habe ich glaube ich noch in der Steam-Bibliothek.

Die eigentliche Offenbarung der Netflix-Spieleoffensive ist Into the Breach auf dem Tablet. Ich fand es auf dem PC schon brillant, auf der Switch war es mir dann etwas zu klein und zu frickelig. Auf dem großen Touchscreen findet das Taktikspiel seine Idealform, es fühlt sich fast so an wie ein hochwertiges Plastik-Rätsel. Die Steuerung ist perfekt, das Bild ist groß genug. Ich will es nie wieder woanders spielen.

Into the Breach ist das perfekte Tabletspiel. Besser als Knittens!
Bowling Ballers hätte ich auch total lustig gefunden, wenn ich es im Grundschulalter hätte spielen dürfen.
So sieht Golf aus, wenn es nicht ums Golf geht und keine*r weiß, wo das Loch ist.

Wenn ich es denn spielen würde. Leider spiele ich Knittens. Und ein älterer Indie-Hit wird Netflix-Spiele sowieso nicht aus der Nische heben. Weniger als ein Prozent der Netflix-Nutzer spielt täglich Netflix-Spiele. Mit irgendwelchen Asphalt-Ablegern und mittelmäßigen Stranger-Things-Action-Adventures wird der Anteil nicht zu steigern sein. Und mit Knittens fängt man auch keine Mäuse. Damit fängt man nur mich.

Die Wolle kratzt

Ich habe mich in der Wolle verheddert.

Die Katzen haben ihre Krallen in mein Fleisch gegraben.

Ich hab mich selbst ins Abseits gematcht.

Schlechte Wortspiele kann ich auch, so ein Spiel könnte ich aber nicht machen. Das Fiese an Spielen wie Knittens ist, dass sie nicht so dumm sind, wie sie sich geben. Sie wollen halt keinen Spaß machen, sondern mich nur dabei halten. Sie verfolgen ein präzise verfeinertes Design, zusammengebraut aus A-B-Experimenten und Best-Practice-Geheimwissen. Free-to-Play-Mobile-Spiele wollen uns süchtig machen und hinterfragen das unnatürlich krasse Engagement ihrer Spieler*innen im Erfolgsfall nicht so recht. Knittens ist zumindest dahingehend nicht böse, dass alle Kosten im Netflix-Abo stecken. Ich kann nicht die Kontrolle verlieren und doch 100 Euro ausgeben, um den extragroßen Sack blaue Diamanten zu kaufen. In normalen Free-to-Play-Spielen geht das, und das macht ihr Geschäftsmodell etwas anrüchig.

Ich werde es nicht löschen, es kostet nichts mehr, es ist schon da.

Pro-Tipp: Solche Spiele gar nicht erst herunterladen! Den Teil habe ich längst verstanden, und ich habe mich so konditioniert, dass ich mein Geld für Spiele lieber vorher und komplett bezahle als vielleicht, später und in endlosen Häppchen.

Leider habe ich mich diesmal innerhalb weniger Stunden so konditioniert, dass ich Knittens starte, wenn ich ein paar tote Minuten habe. Das Spiel ist jetzt auf meinem Handy. Ich werde es nicht löschen, es kostet nichts mehr, es ist schon da. Wenn ich vor dem Schlafen die Schwere der Welt nicht mit ins Bett nehmen will, dann ist Knittens wahrscheinlich besser geeignet als irgendein Liveticker. Dann sitze ich aber nicht wie auf Wolle im Badezimmer und schmuse mich durch den Level. Ich habe nur noch elf Züge! Ich muss die Augen zusammenkneifen und mich konzentrieren. Keine Entchen kommen von oben nach. Die Grünen Knäuel sind verschwunden. Wo fliegt noch ein Vögelchen. Nur noch drei Züge. Auf dem dunklen Kissen liegt noch ein Geschenk. Ich bin verloren.

Soweit ich das absehen kann, hat Knittens inzwischen 1542 Level. Es werden mehr.

Jan Bojaryn Freier Autor

JB

Jan Bojaryn schreibt für Tageszeitungen und Kulturzeitschriften über Videospiele und vergleichbar wichtige Themen.

Midjourney: cat playing a videogame on mobilephone with a unicorn on the head

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5 Kommentare


Kommentare

  1. Avatar for Lyra Lyra says:

    Meine ältere Tochter spielt Bowling Ballers und erzählt mir gelegentlich, was alles Lustiges in dem Spiel passiert sei. Besonders lustig ist es aber nie, das Spiel ist ein Endless Runner mit Bowlingkugeln. Wenn ich nicht selbst Knittens spielen würde, könnte ich ihr sagen, dass sie damit doch nur Zeit totschlägt, ob sie nicht vielleicht etwas Gehaltvolleres spielen will.

    Beste Stelle im Text!

  2. Ich habe den Artikel gelesen und verspüre keinerlei Bedürfnis, Knittens zu spielen. Glück gehabt! :cat2:

  3. Avatar for Peter Peter says:

    Bei mir hat schon der erste Satz gereicht…

  4. Avatar for Peter Peter says:

    … und nach 30 Levels habe ich es wieder deinstalliert. Ich glaube das ist so ziemlich das schlechteste Match-3-Spiel, das mir jemals untergekommen ist und das waren einige…

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