Alle zwei Wochen setzt sich Rainer Sigl an seine Tastatur und schreibt dir einen Brief. Ja, dir. Es geht um die großen, wichtigen, letzten Dinge: Sex, Tod, die Liebe, das Leben, den Sinn des Ganzen. Und um Videospiele. Große, kleine, teure, obskure, die Menschen, die sie machen, kritisieren, spielen und lieben. Kurzum: Es geht ans Eingemachte. „Brief und Sigl“ ist eine Depesche aus dem Ludoversum.
Wien, 17.09.2022
Du wirst es nicht für möglich halten, aber someone is wrong on the internet. Schon wieder! Das könnte und sollte uns allen ziemlich egal sein. Außer natürlich: Es geht um uns.
DJ Vlad, ein ukrainischstämmiges New Yorker HipHop-B-Promi-Urgestein und inzwischen Medienmacher, hat Folgendes auf Twitter gesagt, dafür über 45.000 Likes und 27.000 Retweets sowie über 14.000 Antworten eingesammelt: „As an adult, playing video games for long periods of time is a form of depression. If you don’t believe me, ask yourself this. Think about the 100 greatest moments of your life. Do any of those moments include video games? Probably not. And this comes from a lifetime gamer.“
Steigt bei dir auch schon der Puls? Nähern sich vom Rand des Gesichtsfelds schon blutrot wabernde Grafikeffekte? Formiert sich in dir der unbändige Drang, sofort per (wahlweise) a) ätzendem Sarkasmus, b) einer Linksammlung zu 26 Studien über die positiven Auswirkungen von Videospielen c) wüsten Morddrohungen oder aber d) höflichem Widerspruch, angereichert mit eigenen Games-Anekdoten zu reagieren?
Wenn’s so ist, bist du in guter oder zumindest zahlreicher Gesellschaft, denn so geht es scheinbar sehr vielen Menschen, die gern spielen. Das mag einerseits eine Grundfunktion der Erregungsspiralen in Sozialen Medien sein: Provokante Takes werden eben mehr geteilt als welche, die zustimmendes Kopfnicken hervorrufen, Drama ist interessanter als Harmonie und Empörung klickt gut. Ich glaube aber fast, dass sich die globale Spielerschaft wirklich besonders leicht auf die Palme bringen lässt.
Moment, Moment, ja, ich stimme dir völlig zu: Was DJ Vluff hier von sich gibt, ist undifferenzierter Bullshit und trotz mutmaßlich guter Absicht letztlich Unsinn. Was sind „long periods of time“? Meint er: über Jahre hinweg? Meint er: täglich mehrere Stunden? Wer von uns kann tatsächlich „100 greatest moments of our life“ aufzählen, und wer sagt denn, dass da nicht doch großartige Erlebnisse in Spielen dabeigewesen sein sollen? Und was hat überhaupt das eine mit dem anderen zu tun? Könnte man hier nicht einfach „video games“ durch so gut wie jede andere Tätigkeit ersetzen und es wäre immer noch genauso verallgemeinernder Blödsinn?
Spoiler: Exakt so ist es. Folglich wäre es jetzt genau die angemessene Reaktion, auf Unsinn wie diesen elegant die Schultern zu zucken und DJ Vlapp sofort wieder zu vergessen.
Dass das kaum ein „Gamer“ schafft, um diesen unseligen, von mir wenig geschätzten Begriff hier mal zu verwenden, ist erklärbar, immer noch deprimierend und eigentlich ein Ärgernis. Genau das zeigt sich verlässlich auch in so gut wie jedem anderen Breitenmedium, in dem sich regelmäßig feixende und/oder schlicht ignorante Zeitgenossen einfinden, um unter Videospieltexten kundzutun, was für eine Zeitverschwendung das Spielen elektronischer Unterhaltungsprodukte ihrer ebenso unfundierten wie unreflektierten banalen Vorurteilsmeinung zufolge doch darstellt. Lest doch mal ein Buch! Immer so viel Bummbumm! Wir sind früher viel mehr rausgegangen, das war besser! Alle krank!
Unterhalb dieser Ausflüsse in Kommentarforen, oder eigentlich richtiger: darüber, in lichten Höhen: Gamer, auf den Gipfeln aller Palmenwälder versammelt, mit hochroten Köpfen und in rechtschaffenstem Zorn. Werden sich diese unverschämten Verächter des populärsten Entertainmentmediums dieses Planeten je ändern und irgendwann anerkennen, wie supi Games doch sind, wenn wir ihnen nur a) sarkastisch, b) fundiert, c) rabiat oder d) zivilisiert genug widersprechen? Ich habe meine Zweifel, aber hey: you do, you.
Die Geschichte verdammt viele von uns dennoch dazu, immer wieder auf diese Palme zu steigen, denn sie lehrt: Wir hier, wir Auskenner, haben unser Hobby immer gemeinsam gegen die draußen wütenden Horden an Nix-Checkern zu verteidigen. Sonst nehmen sie es uns nämlich weg. „Killerspieldebatte“ in tausend schlechtest recherchierten Elternaufregerbeiträgen sei Dank wittert der Gamer auch 2022 immer noch in allem existenzbedrohende Angriffe, und sei es sogar nur im mitternächtlichen Post-Döner-Tweet eines eigentlich sowas von egalen DJ Vlatsch. Da nutzt auch der Verweis auf das lifelong Gamertum nix mehr: Wie Donald Sutherland in den Körperfressern heben wir anklagend gemeinsam die Zeigefinger und kreischen drauflos, nur die Hipsterbärte sehen heute cooler aus.
Dabei geht auch schon mal was verloren, und das ist in diesem Fall zumindest das Körnchen unbequeme Wahrheit, das DJ Vlotz hier durchaus gefunden hat: Ja, exzessiver Konsum von Videospielen kann durchaus ein Symptom einer Depression sein; und, nebenbei angemerkt, problematisches Spielverhalten von Videospielen existiert und wird inzwischen auch abseits der besorgten Müttervereinsspieleverbotsfraktion ernst genommen.
Was auch noch verloren geht, ist eine gewisse Art von Souveränität, Kritik, auch und besonders substanzlose, auszuhalten und sie als das einzuordnen, was sie im Fall von DJ Vlip ist: belangloses Rauschen am Wellenbrecher des längst in der berühmten Mitte der Gesellschaft angekommenen Riesenmegamediums Videospiele, das uns(TM) keiner mehr wegnehmen kann.
So ein Medium hätte eigentlich auch ein Publikum verdient, das sinnloses Gebrabbel von realer Kritik unterscheiden – und Letztere annehmen kann. Das ist schwer, wenn man in einer Mischung aus ewigem Verteidigungsmodus und echter Liebe sich sein Baumhaus in der Krone der höchsten Palme bequem eingerichtet hat.
Verschwenden wir mit Spielen unsere Lebenszeit? Manchmal sicher. Können Spiele unser Leben bereichern? Absolut. Egal, was deine Tante Helga sagt. Egal, was User Adorno_hatte_Recht_67 im Forum sagt. Egal, was DJ Vlups sagt.
Dein
"Streite niemals mit dummen Leuten. Sie werden dich auf ihr Niveau bringen und dich dann mit Erfahrung besiegen.“ – Mark Twain
Da müsste man eigentlich die Gegenfrage stellen: gehört zu deinen 100 Glücksmomenten auch ein Buch? Ein Film? Eine Fernsehserie?
Die Aussage finde ich sehr merkwürdig und fragwürdig, hätte sie aber wie so vieles mit einem Schulterzucken abgetan. Excessives Zocken kann mit Depression einhergehen, sicher. Aber kann vieles andere auch. Ebenso sind Ursache, Symptom und Auswirkung hier sehr fraglich.
PS: ich habe nach nur wenigen Sekunden wirklich tolle Glücksmomente mit meiner Exfreundin und einem Videospiel in meinen Erinnerungen gefunden. Bämm, nimm das! Und das, obwohl ich diagnostiziert depressiv bin, bereits lange vor dem wirklich excessiven Computergedaddel.