Wie ist London im Jahr 2070? Mal wieder so richtig beschissen. Sunday Gold ist nicht das erste Spiel, das von Underdogs in einer dystopischen Zukunft erzählen will. Hier sehen sie besonders cool aus, aber dann verirren sie sich in einem Escape Room mit Würfelstrafen.
In einem Lagerraum liegen Leichen. Das ist nicht schlimm, das kann in Sunday Gold passieren. Das eigentlich Schlimme daran ist aber, dass ich nur noch eine Handvoll Aktionspunkte habe. Eine Leiche durchsuchen kostet 3 AP pro Stück. Ich muss aber auch ein Rätsel lösen, um die nächste Tür zu öffnen. Wahrscheinlich muss Sally noch etwas aufstemmen, oder Frank muss etwas aufknacken, oder Gavin muss etwas Hacken. Das wird AP kosten. Also spare ich mir die Erkundung vielleicht und verpasse wahrscheinlich eine neue Waffe oder ein gutes Ausrüstungsstück.
Der Kampf danach ist allerdings obligatorisch. Ich habe die Spielrunde beendet, um meine AP aufzufüllen, der Alarm in der Bildecke ist vollgelaufen, und folgerichtig kommen die nächsten zwei bis drei Gegner aus einem kleinen Pool möglicher Wachleute und Sicherheitsapparate, um mich rundenweise zu bekämpfen. Der Kampf ist selten schwer. Meistens zieht er sich einfach.
Verbrechen lohnt sich nicht
Über AP brüten und langatmige Kämpfe überstehen – unfreiwillig ist Sunday Gold ein Spiel geworden, das auch im Jahr 2070 von einer Polizeigewerkschaft herausgegeben hätte werden können, um Halbstarke von der schiefen Bahn abzubringen. Dabei sieht es von weitem so gemein und witzig aus! Im Detail erklärt werden muss die Zukunft gar nicht, sie ist hier so ähnlich wie anderswo: Stadt kaputt, Kapitalismus ungebremst, Menschen ausgebeutet. Rebellion und Kriminalität sind in diesem Kontext folgerichtige Reaktionen, und so könnten die Antiheld*innen der Geschichte mir ans Herz wachsen.
Bei zweien klappt es auch: Frank ist ein Dampfplauderer mit hohen Schulden und einer ruhigen Hand, Sally eine breitschultrige Schlägerin mit einem Herz aus Gold. Sie werden nicht tief ausgeforscht, aber sie sind sofort zu verstehen und wachsen mir ans Herz.
Gavin ist der asoziale, anarchistische Hacker der Gruppe, und ich finde ihn völlig ungenießbar. Seine Ausbrüche und Anfälle sind schon deshalb nicht witzig, weil sie sich im überstrapazierten Klischee erschöpfen. In der Welt von Sunday Gold kennt kein Mensch einen originellen Satz, alles ist ein angeslangtes Zitat von anderswo. Dazu sind die Dialoge kurz, und die großen, dramatischen Portraits der Charaktere beherrschen wenige Gesichtsausdrücke. Gavin bekommt also auch keine Gelegenheit, mir irgendwann eine menschliche Seite zu zeigen und mich umzustimmen. Er bleibt ein Arschloch. Höchstens die Panikattacken kann ich nachvollziehen, aber die werden erzählerisch nicht ernst genommen und mit Schnaps behandelt.
Soweit die Story. Dazu gibt’s bodenständige Escape-Room-Rätsel mit rundenbasierten Rollenspiel-light-Kämpfen. So wird das nichts.
Wie wir London verloren haben
Der Anfang ist allerdings stark. Frank wurde aus einer Kneipe geworfen, in die er jetzt wieder rein muss. Dafür spielt er ein Adventuretutorial mit schlichten Rätseln und kämpft einen kurzen Kampf. Hier bin ich noch viel zu geflasht, um mechanische Mängel zu suchen. Alles sieht schick aus, mit fetten Linien und großen gelben Flächen im Interface, mit Totalen wie von der Überwachungskamera und plötzlichen Nahaufnahmen wie aus einem Comic. Dazu rutschen und quietschen die Blechbläser wie ein Fluchtauto auf nassem Kopfsteinpflaster.
Quantitätsmatrix
Frank und Sally kennen sich, Gavin ist der neue, wacklige Komplize. Er ist auch der Informant, denn er weiß etwas über die Machenschaften von Hogan Industries, seinem alten Arbeitgeber. Die drei beschließen, in die alte Arbeitsstätte einzubrechen.
Originell ist die Geschichte also eher nicht, aber sie funktioniert. Sie steckt mich an. Ich will wirklich wissen, was Kenny Hogan im Schilde führt, ich will alles riskieren, fette Beute machen und Wachleute verprügeln.
Der Start in die Einsätze nach einer schicken, animierten Zwischensequenz ist dann auch eine Enttäuschung. Da stehen die drei, unbewegt, mit gelben Zeichentricklinien drum herum, in einem Parkhaus später dann in einer Lagerhalle oder so. Stylisch ist das Interface. Aber es erinnert mich auch an die AP. Frank, Sally und Gavin haben je 7 AP pro Runde.
Ein bisschen Umschauen ist gratis, aber jede geöffnete Schublade frisst AP. Ich ahne schon, dass sich hier Reibung oder Spannung ergeben soll, aber ich finde solide umgesetzte Grafikadventures auch ohne AP spannend. Und da werde ich nicht fürs Umschauen bestraft. Hier hatte ich bei zu vielen Rätseln das Gefühl, vielleicht einfach etwas zu übersehen, oder einen cool gemeinten Spruch nicht zu verstehen, und habe irgendwann doch alles durchsucht und rundenweise AP verballert.
An zwei Stellen hatte ich auch tatsächlich etwas übersehen. Das Problem sind keine pixelkleinen Interaktionspunkte, sondern die fetten gelben Linien um interaktive Elemente, die auch unübersichtlich werden können. Die Hotspotanzeige wird erst im Lauf des Spiels als Fertigkeit freigeschaltet und kostet AP. Natürlich will ich die nicht ausgeben, ich will aber auch nichts übersehen. Könnte das die Spannung sein? Ich weiß, dass manche Menschen die Suche nach Interaktionspunkten für eine Form von Spaß halten, für mich ist der Zwang dazu aber ein Verbrechen, vergleichbar mit dem nächtlichen Einbruch in ein Bürogebäude.
Wie ein deutscher Fernsehkrimi 1970
Und wie ich von Sunday Gold weiß, kann so ein Einbruch statt prickelnd auch ganz schön langweilig werden. Mindestens zweimal bin ich bei meinen Halbweltaktivitäten eingedöst. Die Halbwelt hat mich mit der trostlosen Normalität vieler Kulissen nicht gerade wachgerüttelt. Regungslos stehen meine gelb umrahmten Charaktere in trostlosen Lagerhäusern und Serverräumen herum und müssen das nächste kleinliche Rätsel lösen.
Wenn Rätsel besonders umständlich werden und ein Spiel mich durch einen zwölfschrittigen Prozess zwingt, um eine Tür aufzubrechen, dann zweifle ich gelegentlich an mir selbst, nicht nur in Sunday Gold. Bin ich vielleicht doch einfach dumm? Sind Adventures einfach nicht mein Genre? Die nagenden Fragen machen mich vielleicht etwas nachsichtiger. In diesem Fall ist leider während der laufenden Testphase Return to Monkey Island vorbei gejoggt und hat Sunday Gold in die Kniekehle getreten. Natürlich können Rätsel mehrschrittig sein, ein albernes Ziel verfolgen und trotzdem Spaß machen. Aber Sunday Gold kann das nicht. Es hat einfach zu viele austauschbare Rätsel in zu wenigen Räumen, die zu oft zu umständlich sind und dabei zu wenig Kreativität verlangen. In aller Regel bekomme ich explizit gesagt, welchen bereits erkundeten Raum ich bitte noch einmal besuchen soll, um da nach einer Schlüsselkarte oder einem vergleichbar interessanten Gegenstand zu suchen.
Auch die Minispiele leiden vor allem an ihrer Wiederholung. Wenn Frank Schlösser knackt oder Sally schwer hebt, gibt es ein kleines Reaktionsspiel. Wenn Gavin hackt, spielen wir Mastermind. Alle drei Aufgaben haben mich ein paar Runden lang unterhalten, dann nicht mehr.
Noch viel häufiger als seichte Minispiele stören mich aber die rundenbasierten Kämpfe. Anfangs sind sie einigermaßen schnell vorbei, schlicht, aber dramatisch inszeniert. Dann aber nehmen die Hitpoints auf beiden Seiten üppig zu. Die Handvoll Fertigkeiten, die meine Bande durch Levelaufstiege gewinnt, die geplünderte Ausrüstung sind alle etwas dünn, sie bringen eher wenig Abwechslung und ändern wenig am starren Ablauf der Kämpfe. Und dann wiederholen sie sich so oft, dass es absurd wird. Wie viele Wachleute muss ich eigentlich umlegen, bis hier irgendjemand Verstärkung ruft? Ich werde nicht unbedingt verzweifelter, ich spüre nicht den Atem der Ordnungsmacht im Nacken. Ich langweile mich einfach und levele im Lauf der Kämpfe selbst so schnell hoch, dass ich mich nicht mehr besonders bedroht fühle.
Zartbitterschokolade mit Majo
Selten habe ich einer Puzzleschachtel so viele schöne Teile gefunden, die alle so aussehen, als müssten sie zueinander passen, es aber doch nicht tun.
Ein paar gute Ideen sind schlecht umgesetzt. Dass Charaktere vor Stress und Angst durchdrehen können, gefällt mir, wirkt aber willkürlich. Und wenn es dann passiert, ist das nicht schlimm, sondern etwas umständlich.
Ein paar Stärken ziehen Schwächen nach sich. Die Menüs sehen immer schick aus, sind aber nicht immer besonders übersichtlich.
Ein paar Inhalte werden einfach zu oft wiederholt. Die Zahl der Portraits und Schauplätze hätte ich in einem halb so langen Spiel deutlich besser ausgehalten. Beim letzten Bruch habe ich die Geduld verloren, war bis hierhin aber acht Stunden beschäftigt.
Ein paar Konzepte passen nicht zusammen. Ein Adventure mit begrenzten Aktionspunkten kann den Druck erhöhen, aber in dieser Umsetzung hat es sich für mich angefühlt, als würde ich für die Erkundung bestraft. Dabei liebe ich das Entdecken.
Und so ist die Mischung einfach unausgewogen. Vielleicht ließe sich in einer ähnlichen Form ein gutes Spiel machen. Aber dieses hier hat zu viel halbgare Inhalte um eine eher dünne Story gestrickt.
Fazit
Die Idee ist toll, der Style besticht, aber die Umsetzung enttäuscht. Ich breche lieber woanders ein.
Nach der begeisterten Schilderung von @jagoda auf der Gamescom war ich ganz gespannt was Sunday Gold für ein Spiel sein würde und habe es gewishlisted. Es klang so frisch, dem Adventure neue Aspekte hinzuzufügen. Das scheint nun wohl eher in die Hose gegangen zu sein.
Nach dem Release habe ich mir erste Eindrücke geholt, war dabei schon leicht ernüchtert und hoffte auf das WASTED Review, welches nun der fehlende Schlag in die Kniekehle ist.
Lohnt es sich denn nach dieser in sich schlüssigen und leider schlechten Bewertung überhaupt noch das Spiel anzufassen?
Mich würden weitere Meinungen interessieren.
Schade, die Demo war ganz cool. Hat aber auch nur die erste Stunde vom Spiel gezeigt.
PS: Ich schenke dem Text fünf Leerzeichen.
Danke, habe die fünf hier gefunden und in den Text zurückgelegt.
Ein wunderbarer Text zu einem vielleicht doch schlechten Spiel. Ich kann und will es noch nicht wahrhaben! Bittere Pille.
Wirklich schade, weil es eigentlich schon wie eine super Idee klingt. Ich habe keine Lust mehr auf Adventures, weil ich das Gefühl habe, dass ich einfach nur Dinge anklicke um die Story voranzutreiben. Der rundentaktische Ansatz hätte so viel Potential: Zeitdruck, Zwang zur Lücke, verschiedene Lösungsansätze, etc.
Man sollte an der Idee dranbleiben…
Entgegen aller Logik habe ich nun doch auf meine Da-hab-ich-irgendwie-Bock-drauf-Stimme gehört und Sunday Gold gezockt – durchgezockt.
Und was soll ich sagen, nun ja, natürlich habe ich nicht die Expertise eines WASTED (oder gar einer Schiffers Spielebude), aber Stand jetzt billige ich dem Spiel eine weitaus bessere Wertung zu. Eingeschlafen bin ich bei Sunday Gold keine Sekunde, im Gegenteil. Es hat mich vorzüglich unterhalten. So ist das wohl mit dem Geschmack, der Subjektivität und dem eigenen Anspruch.
Die Graphiken erinnern irgendwie bisschen an Shadowrun. Hat es Ähnlichkeiten?