Alle zwei Wochen setzt sich Rainer Sigl an seine Tastatur und schreibt dir einen Brief. Ja, dir. Es geht um die großen, wichtigen, letzten Dinge: Sex, Tod, die Liebe, das Leben, den Sinn des Ganzen. Und um Videospiele. Große, kleine, teure, obskure, die Menschen, die sie machen, kritisieren, spielen und lieben. Kurzum: Es geht ans Eingemachte. „Brief und Sigl“ ist eine Depesche aus dem Ludoversum.
Wien, 14.10.2022
Liebe Leserin, lieber Leser,
wir, du und ich und alle anderen, wir leben ein bisschen in der dümmsten Timeline, man kann es nicht anders formulieren. Einen letztlich beliebigen Beleg für diese ebenso deprimierende wie unspektakuläre These wiederhole ich immer wieder gern: Unser Tony Stark ist ein Trottel. Und was sich so an anderen Milliardären auf diesem Planeten herumtreibt, ist nicht besser.
Immerhin bildet Musk gemeinsam mit seinem Tech-Milliardärskollegen Mark Zuckerberg ein interessantes Gegensatzpaar. Musk meint ja, die Zukunft der Menschheit draußen im All verortet zu haben. Space is the place, so verspricht der Twitter-Comedian das schließlich seit Jahren. Dem endlosen Außen, der „final frontier“ aller fantasielosen SF-Proleten, steht nun mit Zuckerbergs Vision allerdings das theoretisch noch viel größere Innen entgegen.
Elon Musk will uns rausbringen, Zuckerberg und Meta wollen uns reinkriegen: ins Metaverse. Dass keiner der tausenden Buzzword-Copypaster übrigens weiß, wieso man statt „Metaverse“ nicht einfach „Second Life, nur in weniger hübsch“ sagen soll, hat einen Grund: Die Vision, die Zuckerberg davon hat, hat mit Spielen nicht mehr besonders viel gemeinsam.
Kurz gesagt: Zuckerberg hat keine Ahnung davon, was die bislang wohl größte Käufergruppe seines Meta-Flaggschiffprodukts, der Oculus Quest, zur Hölle denn überhaupt mit diesem Teil vor den Augen erleben will. Wir wissen es natürlich, und damit schlenkert dieser Brief endlich in vertrautes Terrain: Es ist nicht kühn, zu behaupten, dass der Reiz von VR für die allermeisten seiner KäuferInnen im Spielerischen liegt. Darin, sich staunend in einem Dungeon, in einem Raumschiff, in einer Fantasiewelt wiederzufinden. Im Cockpit eines Formel-1-Wagens zu sitzen, oder aber: zu malen, 3D-Skulpturen zu bauen, mit Laserschwertern wilde Tänze aufzuführen.
Kurzum: Wer eine VR-Brille aufsetzt, will für gewöhnlich irgendetwas tun, was der Alltag nicht zu bieten hat. Spielen, ihr wisst schon: eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung ausüben, die innerhalb gewisser festgelegter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des „Andersseins“ als das „gewöhnliche Leben“.
Dass sich das ein klitzekleines Bisschen mit der Idee beißt, gemeinsam mit seinem Chef und seinen Arbeitskollegen in einem virtuellen Konferenzraum zu sitzen, kann auch nur einem Androiden wie Zuckerberg nicht auffallen. Pssst, Mark: Das war der Teil mit dem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des „Andersseins“ als das „gewöhnliche Leben“.
Was sich Zuckerberg in seiner drolligen Tech-Milliardärssozialstörung stattdessen vorstellt, ist die physische Verfrachtung all der von Facebook schematisierten Beziehungen von Menschen untereinander in eine kontrollierte virtuelle Aquariumsumgebung. Eine möglichst perfekte Abbildung meiner Selbst als virtueller Meta-Zwilling; ich, nur digital, in einem Büro mit besserer Aussicht. Eigentlich verblüffend, dass ein derart sterbenslangweiliger Pitch nicht jemandem komisch vorgekommen ist.
Der Großteil der Menschen scheint nämlich irgendwie momentan noch keine Lust zu haben, sich einen immer noch unbequemen Helm aufzusetzen, um dann seine gesamten privaten und geschäftlichen Konversationen auf Servern des bekannt datenschutzfanatischen Meta-Konzerns zu führen. Was die Menschen wollen, die Palmer Luckey damals die erste Oculus mit Enthusiasmus vorfinanziert haben? Egal. Die haben nicht viel zu sagen, wenn Milliardäre träumen.
Aber der Lobo glaubt dran, da wiegt mein Spott leicht dagegen. Und außerdem: Die Idee von den unendlichen Weiten im Inneren, die gibt es schon viel länger als Zuckerbergs tragikomische Versuche, seiner Sprechpuppe echte Füße angedeihen zu lassen.
Statt rauszufliegen wie Picard und Musk, reisen Roman- und Filmhelden der Science-Fiction nämlich ziemlich regelmäßig ins Innere. In endlose Paralleldimensionen, durch die Zeit als räumlich kompaktere Unendlichkeit oder schlicht und effizient in die Welt als Simulation, wie sie ja Philosophen wie Nick Bostrom ebenso herbeiargumentieren. Genau diese Vision steht irgendwie schon immer hinter VR: die virtuelle 3D-Welt als Ersatz für die Realität. Nur eben, und hier hapert’s, nicht als Arbeits-, sondern als Spielplatz.
Das öffnet zugleich den Weg hin zu einer eigentlich gar nicht so geilen Zukunft: die Matrix als Alternative zur teuren und gefährlichen Expansion ins reale All, die Virtualisierung aller Menschen als platz- und geldsparende Alternative zum Wirklich-schon-wieder-Rausgehenmüssen. Der schottische SF-Autor Charles Stross hat die Idee, dass sich technisch weit fortgeschrittene Zivilisationen so immer weiter ins virtuell simulierte Innere anstatt ins reale Außen entwickeln, als schlüssige Antwort für das Fermi-Paradoxon auf den Tisch gelegt. Ein stummes Universum, voll mit autistisch abgeschlossenen Zivilisationen in „Matrioshka- Gehirnen“, die selbstgenügsam nur mehr als reine Information existieren.
Die reichsten Menschen des Planeten setzen so betrachtet auf zwei gegensätzliche Varianten des Eskapismus, und das Wort ist hier nicht nur leichtfüßig im Sinne von Unterhaltung gemeint, sondern als Fluchtverhalten: Der eine will zum berühmten Planeten B fliehen, weil unserer hier schon, naja, nicht mehr im besten Zustand ist; der andere lieber ins Innere, wo sich die Bevölkerung der Facebook-Matrioshka in Rundumkonserve von neun bis fünf optimal bewirtschaften lässt und auch Mark Zuckerberg endlich menschenähnliche Mimik spendiert bekommt.
Ob da noch was draus wird? Keine Ahnung. Eskapismus hat irgendwie nur dann Sinn, wenn der Ort, an den ich flüchte, in mir ein Gefühl der Spannung und Freude und ein Bewusstsein des „Andersseins“ als das „gewöhnliche Leben“ auslöst. Vielleicht könnte das jemand bei Gelegenheit auch Herrn Zuckerberg erklären.
Dein
PS: Ein Brief, der derart off-topic ist, hat zumindest ein handfestes PS verdient. Gehet hin und spielet Ozymandias, denn in dem könnt ihr die gesamte Antike-Phase einer durchschnittlichen Partie Civilization in 40 Minuten erleben. Und wir alle wissen: Die Antike ist immer das Beste an Civ. Da gab’s auch noch kein VR. Coincidence?!?
Ich frage mich ja: Sind „wir Gamer“ zu Recht oder zu Unrecht so extrem skeptisch gegenüber sowas wie dem Metaverse?
Ich habe das Gefühl in der Tech-freundlichen aber weniger Gaming-affinen Bubble halten sich Skepsis und Faszination eher die Waage.
Unter meinen Kolleg:innen (IT-Branche) wird das auch gerade diskutiert und da ist auch die Korrelation Gamer:in <> Findet Metaverse doof sehr hoch.
Vielleicht können wir noch nicht sehen, was Mark Zuckerberg sieht, aber das was wir sehen triggert - zumindest bei mir - das Gefühl: Das Metaverse ist alles was an Gaming schlecht ist.
Und gleichzeitig ist es ja so offensichtlich warum Meta alle Pferde darauf setzt. Metas Produkte finden ausschließlich im digitalen Raum statt, was läge da näher diesen Raum so weit es geht zu erweitern. Ob das eine gute Idee ist oder nicht, muss sie nicht interessieren, solange die Leute aufspringen.
Edit: Milliardäre setzen nicht alles auf ein Pferd, sondern alle ihre Pferde auf etwas… finde ich einen zu schönen Verschreiber, als dass ich ihn jetzt korrigieren würde.
Edit 2: Pferde im Metaverse JETZT MIT BEINEN! (Symbolgif)