Alle zwei Wochen setzt sich Rainer Sigl an seine Tastatur und schreibt dir einen Brief. Ja, dir. Es geht um die großen, wichtigen, letzten Dinge: Sex, Tod, die Liebe, das Leben, den Sinn des Ganzen. Und um Videospiele. Große, kleine, teure, obskure, die Menschen, die sie machen, kritisieren, spielen und lieben. Kurzum: Es geht ans Eingemachte. „Brief und Sigl“ ist eine Depesche aus dem Ludoversum.

Wien, 12.11.2022 

Liebe Leserin, lieber Leser,

ich hab ja letztes Mal schon ein wenig von meiner mäßigen Begeisterung für den AAA-Hochglanz geschrieben und auch die altbekannten Gründe für die Risikoaversion großer Titel in Erinnerung gerufen. 

Anlässlich des Erscheinens von God of War: Ragnarök  habe ich aber nochmal darüber nachgedacht (und auch eine dementsprechend eher polemische Besprechung des Spiels für FM4 verfasst). Vorweg: Ich will die offenkundigen Qualitäten dieses Spiels – grafisch, inszenatorisch, in Sachen Ausstattung, Design, Technik – nicht in Frage stellen. Aber beim Spielen und beim Lesen der von allen möglichen anderen Seiten eintrudelnden enthusiastischen Rezensionen haben sich mir dann doch ein paar Fragen aufgedrängt: Genügt uns das? Wirklich? Ist das zugegeben bombastische und fehlerfreie Wiederaufwärmen des bekannt Erfolgreichen wirklich genug für all die Lorbeeren? Wenn so ein „Meilenstein“ aussieht – wohin soll dieser Weg dann führen?

Rainer Sigl

Schreibt und spricht seit 2005 (nicht nur) über Videospiele. Lebt in Wien.

Versteht mich nicht falsch: Ich finde absolut nicht, dass Ragnarök ein schlechtes Spiel wäre. Im Gegenteil: Es ist ein ziemlich gutes AAA-Actionspiel. Aber, und das scheint mir manchmal ein wenig zu kurz zu kommen: AAA-Action ist ein vergleichsweise winziges Feld. Es gibt pro Jahr vermutlich ein knappes Dutzend an Spielen, die in dieser Nische veröffentlicht werden, wenn überhaupt. Die unterscheiden sich wenig, und wenn, dann in winzigen Details. Seit dem Erscheinen des ersten Uncharted vor 15 Jahren haben sich Konventionen gebildet, die kaum mehr angerührt werden. 

Wenn nun God of War Ragnarök in den Augen so vieler KritikerInnen und des Publikums ein „Meisterwerk“, ein „neue Maßstäbe setzender“ Glanzpunkt und, siehe oben, ein „Meilenstein“ nicht nur seiner Mini-Nische „millionenschwere AAA Action“, sondern gleich des ganzen Mediums sein soll, wie eigentlich immer mitschwingt, ein fixer Anwärter aufs „Spiel des Jahres“, dann geben wir uns schon mit recht wenig zufrieden, finde ich. Welchen Wert haben dann Originalität und Innovation überhaupt? Braucht es das – oder ist die Frage nach der Originalität nur ein Fetisch all jener, die  sich eben, wie ich, beruflich so viel damit beschäftigen, dass ihnen das x-fach Gesehene, Gespielte einfach schon nur mehr zum Hals heraushängt, egal wie hochpoliert?

Ich weiß, ich weiß: Im AAA-Segment über mangelnde Innovation zu jammern, ist wie im 5D-Multiplex über das Fehlen queerer kambodschanischer Arthouse-OVs zu maulen. Aber andererseits: Es war nicht immer so, dass sich die fette Branche nur millimeterweise nach vorn gewagt hat. Der große Schritt hin zu 3D Ende der 90er-Jahre hat eine regelrechte Explosion neuer Game-Genres und an Gameplay-Innovationen mit sich gebracht. Ja, das hieß auch fette Flops riskieren. 

Man muss sich vielleicht die Karriere eines ehemals großen AAA-Genies wie Peter Molyneux ansehen, um den jetzigen Stillstand als solchen überhaupt wahrzunehmen. Der Mann  hat zwischen 1989 und 2005 unter anderem Spiele wie Populous, Syndicate, Magic Carpet, Theme Park, Dungeon Keeper, Black & White, Fable und The Movies auf den Markt gebracht, jedes für sich ein Erfolg, ein kreatives Wagnis und Blaupause für x Nachahmer. Wer einen Blick auf die Spielgeschichte vor 2005 wirft, sieht auch bei großen Titeln ein wildes Experimentieren, ein buntes Nebeneinander an neuen Ideen. Indie gab’s noch kaum, die Publisher ließen stattdessen ihre mittelgroßen Studios auch einmal was Neues ausprobieren. 

Was hör ich da? „Aber das waren andere Zeiten! Die Spiele waren viel kleiner! Damals brauchte die Entwicklung eines für damalige Verhältnisse großen Videospiels ein, zwei Jahre tops!“ Genau: Das sind exakt die Gründe, warum es heute anders ist und wir seit einem knappen Jahrzehnt immer wieder dasselbe Spiel spielen, nur jeweils mit besserer Grafik, besseren Schauspielern und größerem Budget. 

Ab Mitte der Nullerjahre erleben wir zumindest im Hochglanzsegment eine Wüste der ewigen Fortsetzungen altbekannter Patentrezepte. AAA-Mikado: Wer sich zuerst in eine möglicherweise falsche, weil nicht rentable Richtung bewegt, verliert. Die Liste der kommerziellen Flops der Videospielbranche ist lang, die Angst ist groß. 

Ironischerweise sind für diesen Stillstand genau die Fortschritte verantwortlich, die nun als einzige übrig geblieben sind: HD-Texturen. Motion-Capturing. Full Voice-Acting. Raytracing. Immer bessere, realistischere Grafik, Lichteffekte, Physik-Engines, Grafikkarten, die immer mehr Strom fressen, um das immerselbe Gameplay noch besser aussehen zu lassen. In diese Entwicklung, in diese Oberfläche sind seit einem Jahrzehnt Milliarden geflossen, so viel Geld, dass sich kein Studio trauen kann, etwas anderes als nochmals dasselbe zu versuchen. Ausnahmen existieren, aber sie sind rar.

God of War Ragnarök sieht großartig aus, die Bewegungen von Kratos sind lebensnah, das Voice-Acting und die dynamische Musik sind wie die schauspielerische Leistung der Body-Actors phänomenal. Und doch warte ich genau wie 2007ff geduldig aufs Ende einer Cutscene, bis ich in einer Arena so lange gegen Wellen von Gegnern kämpfen muss, worauf der Weg freigegeben wird, damit ich danach an Zahnrädern und Hebeln drehen darf. Habe ich die QTEs erwähnt? Muss ich? Kein Wunder, dass da eine ahnungslose Edelfeder in der Zeit – im Kultur-Ressort, nicht bei Digital, immerhin wird das Medium ausgerechnet mit diesem Blockbuster „endlich erwachsen“! – hier treuherzig im Fazit davon schreiben darf, dass ihm das Ganze als Film eigentlich noch besser gefallen würde: Stimmt, denn was es zu spielen gibt, bleibt weit, weit hinter der Brillanz der Oberfläche zurück.

God of War Ragnarök ist meinetwegen ein tolles Spiel in seiner immer kleiner, älter und starrer werdenden Nische, die von Millionen Menschen abgöttisch verehrt wird. Aber Frage an euch, all ihr Menschen da draußen, die sich ein bisschen ganzheitlicher für dieses Medium mit seiner einzigartigen Möglichkeit zum Gespräch, zur Interaktion zwischen Werk und Publikum interessieren: Das ist es? Das ist der Meilenstein, das Meisterwerk? Das Spiel, an dem sich in den nächsten Jahren alle Blockbuster messen müssen?

Mir zumindest ist das zu wenig. 

9 Kommentare


Kommentare

  1. Mir zumindest ist das zu wenig.

    Mir auch. Und da ich beruflich nichts mit Spielen zu tun habe, ist das wohl nicht der Grund.

    Dass Spiele wie das neue God of War als Meilenstein deklariert werden, bedarf natürlich bedeutende Stimmen, die hier die Mainstream-Medien sind. Was auf GameStar & Co in den letzten Jahren alles als Meisterwerk abgefeiert wurde, ist mir so egal, dass sich meine Kiefermuskulatur nicht mal für einen Gähner bewegen will.

    Einen Markt, der immer mehr Nicht-Nerds als Gamer:innnen beinhaltet, wird es für so Hochglanz-AAA-Spiele auf jeden Fall geben. Insofern: bitte, sollen sie halt auch in Zukunft weiterhin entwickelt werden.

    Aber dass das von Games-Journalist:innen so abgefeiert wird, nun ja … Ich verstehe es genau so wenig wie Herr Siegl. Der Anspruch der großen Redaktionen ist halt schon lange kein hoher mehr, sondern (mehr oder weniger freiwillig) dem SEO-Diktat unterworfen. Deshalb lese ich auch lieber Kolumnen wie diese, als den großen Rest.

    Ob sich in nächster Zeit einer der großen Publisher traut, in etwas wirklich Neues zu investieren, wage ich zu bezweifeln. Dafür funktioniert das immer Gleiche einfach zu gut. Die Innovation wird mal wieder woanders herkommen müssen.

  2. Avatar for Adrian Adrian says:

    nur gut, dass der Herr Sigl regelmäßig Indieperlen präsentiert :slight_smile: Da findet man die eigentlichen Meilensteine die irgendwann evtl in die AAA übernommen werden.

    Ich warte ja schon auf die AAA Produktion von Vampire Survivor

  3. Avatar for Jagoda Jagoda says:

    Das wird sowas von kommen! Es gibt bereits jetzt unzählige Mobilegame-Klone, die sich am Konzept versuchen, aber am runzeligen Charme eines Vampire kommt keine*r vorbei.

    Da bin ich mit meinem Spieledesigner des Herzens (Dinga Bakaba) einer Meinung: GOTY 2022 (mit Elden Ring auf dem Thron).

    Wusstet ihr, dass die fast jede Woche neuen Content nachliefern? :heart_eyes:

  4. Avatar for Adrian Adrian says:

    hast du Brotato gespielt? das ist auch so geil!

  5. Avatar for VfBFan VfBFan says:

    Vampire Survivors in „AA“ gibt’s doch schon fast genau so und nennt sich Alienation oder Nex Machina.

  6. Avatar for Adrian Adrian says:

    Für die Spiel des Jahres Liste will ich übrigens die Kategorie „bestes/innovativstes Spielgenre“ haben. Gewinnt natürlich das Vampire survivor-Genre mit einem Klacks, weil es einfach mit Abstand den meisten spielerischen Impact dieses Jahr erzeugt hat.

  7. Uff, dann doch jederzeit lieber ein GOW als ein Vampire Survivor. Aber ich bin auch einfach gestrickt. :grin:

  8. Vampire Survivor ist ja auch nicht sonderlich gut. Man könnte in dem Genre aber schon durchaus gutes hinkriegen, Brotato geht da schon in eine nicht so schlechte Richtung. Wobei ich auch nicht weiß ob „Wir lassen einfach den rechten Stick weg und haben nurnoch Autoaim“ so extrem innovativ ist.

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