Es geht um die großen, wichtigen, letzten Dinge: Sex, Tod, die Liebe, das Leben, den Sinn des Ganzen. Und um Videospiele. Große, kleine, teure, obskure, die Menschen, die sie machen, kritisieren, spielen und lieben. Kurzum: Es geht ans Eingemachte. „Brief und Sigl“ ist eine Depesche aus dem Ludoversum.
Wien, 18.12.2022
Liebe Leserin, lieber Leser,
Achtung, Klischeekatapult: Videospiele sind „in der Mitte der Gesellschaft“ angekommen, die Branche ist “größer als Film- und Musikindustrie“ zusammen und damit die „größte Entertainmentindustrie der Welt“. Der „durchschnittliche Gamer“ ist irgendwas zwischen 30 und 40 Jahren alt und die globale Spielerschaft ist, ich zitiere hier aus dem Gedächtnis, zu fast 50 Prozent weiblich.
Als reflektierte AuskennerInnen, die wir hier nun mal sind, wissen wir: Ist alles vielleicht auf dem Papier so, aber nicht wirklich, denn immerhin sind da Spiele und SpielerInnen miteingerechnet, die eigentlich in unseren Augen gar keine richtigen sind. Die spielen doch alle nur am Handy!, tönt der Bass aus hundert Kommentarforen, oder: Das sind doch keine Gamer!
Es ist irgendwie Common Sense bei fast allen, die sich, so wie wir hier, „ernsthafter“ mit Spielen beschäftigen, dass Mobile Games nicht nur keine „richtigen Spiele“ sind, sondern dass der dazugehörige Markt ein Morast aus billig geklontem, mies produziertem, geldgierig auf Sucht programmiertem Software-Schrott ist, der weit unterhalb unserer Würde ist. Wir spielen auf einer richtigen Plattform, einer Konsole oder am Games-PC, und zwar richtige Spiele, mit Highend-Grafik, komplexem Gameplay, Langzeitappeal und einer Community von AuskennerInnen, die das Ganze ernst nehmen.
Wir nehmen das ernst! Nicht so wie Onkel Gustav, der bei jeder seiner zehn Rauchpausen am iPhone und abends vorm Schlafengehen nochmal drei Stündchen Clash of Clans am Tablet spielt. Oder wie Jasmin, die auf ihrem Öffi-Weg täglich eineinhalb Stunden Gardenscapes am Handy suchtet. Und auf jeden Fall ernster als meine Schwiegermama, die in der Woche so geschätzte 20 Stunden damit verbringt, das schöne österreichische Kartenspiel Schnapsen am Tablet mit Unbekannten zu spielen. Pff, ich sag’s ja: Kann man nicht ernst nehmen!
Vor kurzem gab’s wieder einmal beeindruckende Zahlen über die Branche zu lesen: 185 Milliarden Dollar schwer wird das Geschäft mit Videospielen im Jahr 2022 sein, einen Hauch kleiner als 2021, aber hey: immer noch weit über allen anderen Mitbewerbern wie Film (bescheidene 76 Milliarden) und Musik (peinliche 25 Milliarden).
Das Interessante am Umsatz von Videospielen ist nun aber, dass die Hälfte davon, schlanke 92 Milliarden US-Dollar, mit Mobile Games eingenommen wird. Also mit dem, was wir gern „gar keine richtigen Spiele“ nennen, mit dem Geld von Leuten, die „gar keine echten Gamer“ sind.
Ich mag jetzt nicht polemisch werden und uns alle gemeinsam elitäre IgnorantInnen schimpfen, weil wir „sowas“ nicht spielen wollen. Ich mag auch gar nicht mit euch diskutieren, ob bzw. warum Mobile Games zu 99,9% trotzdem Schrott sind. Ich möchte eigentlich viel lieber auf einen Umstand aufmerksam machen, der irgendwie paradox ist, aber kaum jemals thematisiert wird.
Ein riesiger Markt, mit 92 Milliarden Umsatz pro Jahr und vermutlich hunderten Millionen KundInnen, um ein Drittel größer als die globale Filmindustrie, hat im Jahr 2022 so gut wie überhaupt keine journalistische Präsenz und Begleitung.
Es gibt keine Rezensionen von Spielen, die weltweit von Dutzenden Millionen täglich gespielt werden. Es gibt keine Berichte über Games, die Umsätze über den Budgets kleinerer europäischer Staaten erwirtschaften. Es wird nichts geschrieben über das, was in U-Bahnen, Bussen und Zügen auf der halben Welt von jedem zweiten Mann, jeder zweiten Frau, so gut wie jedem Jugendlichen hauptsächlich konsumiert wird. In den AppStores herrscht das Chaos. Kuration: fast null. Journalistische Einordnung: unter null.
Irgendwie schräg, oder? Ich meine, okay, es gibt ein paar spezialisierte Nerd-Seiten im Netz, die sich auf Einzelnes davon konzentrieren. Es gibt Pocket Gamer, das heute ein Schatten seiner selbst ist. Vor ein paar Jahren noch war die Seite Touch Arcade eine großartige Anlaufstelle für iOS-Games, gab es mit Pockettactics eine qualitativ interessante Begleitung zumindest einer Nische von Mobile. Alles abgerockt, geschrumpft, irrelevant geworden. Alternativen: inexistent. Es gibt Reviews in den Stores selbst. „Super gaem! macht Süchtig!!!!!1“ Schönen Dank auch.
Und nein, ich meine jetzt nicht einmal, dass das hier, auf Wasted oder an Orten, die wir sonst so frequentieren, stattfinden sollte: Wir sind und bleiben hier eine Minderheit, die laufend kleiner wird. Ich konstatiere nur, dass anscheinend NIEMAND daran interessiert ist, die Produkte eines 92 Milliarden schweren Markts journalistisch zu begleiten. Wäre das nicht allein aufgrund der Größe, allein aufgrund der Tatsache, dass seine KundInnen nicht irgendwelche Nischen-Nerds sind, sondern eben: Onkel Gustav, Jasmin, meine Schwiegermama, sprich: die Mitte der Gesellschaft, die Aufgabe großer Breitenmedien? Wo sind die Mobile-Games-Tipps in den Tageszeitungen? Warum rezensiert kein Hauptabendprogramm-Magazinformat den Erfolg von Brawl Stars? Das Mobile-Game „Monument Valley“ war 2015 Thema in der Netflix-Serie „House of Cards“ – in den klassischen, realen Medien wurde es großteils ignoriert.
Kommt mir jetzt nicht als Gegenbeispiel mit Diablo Immortal: Das hat seine Publicity deshalb bekommen, weil es aus der Welt der „echten Games“, also von PC und Konsole, rübergewandert ist in die Halbwelt. Und mit Halbwelt meine ich hier: jene Welt, in der die Hälfte des gesamten Umsatzes der Branche erwirtschaftet wird.
Und denkt auch nochmal drüber nach, bevor ihr die „schlechte Qualität“ des Großteils dieser Spiele als Grund für diesen blinden Fleck nennt: Zum Ersten – wäre das nicht genau das beste Argument FÜR eine journalistische Einordnung? Zum zweiten: Über 1000 neue Apps werden allein in Apples AppStore pro Tag veröffentlicht. 87% davon sind Spiele. Selbst wenn 99,9% aller Mobile Games Schrott und nur 0,1 Prozent aller erscheinenden Mobile-Games so gut wären, dass man darüber etwas sagen könnte, wäre das pro Tag immer noch ein gutes Spiel, über das kein Schwein redet. Bei 208.000 Spielen allein im AppStore ist das immer noch eine Lücke von 208 Stück.
So ist das mit blinden Flecken: Man sieht sie nicht nur nicht, sondern man weiß auch nicht, dass sie überhaupt existieren. Dieser hier ist 92 Milliarden Dollar schwer. Und er wird noch wachsen. Bin gespannt, wann er irgendjemandem auffällt.
Dein
PS: Frohe Weihnachten wünsch ich euch an dieser Stelle! Und es wäre kein guter Brief, wenn er zum Thema nicht gleich noch ein paar Argumente und Beispiele fürs gute Spielen am Handy und Tablet nachreichen würde. Nicht die Spiele, die von ihren Opfern per F2P-Psychotricks Milliarden erpressen, sondern Games, die am kleinen Bildschirm genauso viel Berechtigung haben wie die besten Spiele drüben auf PC und Konsole. Ready? Hier kommt eine handliche, niemanden überfordernde kleine Weihnachtsliste mit Links zu Mobile Games für dich, ja, genau dich, mit Altem und Neuem, Bekanntem und Obskurem. Kauft euch doch eins, zwei, oder, was solls: einfach alle davon – kostet insgesamt weniger als zwei Döner mit Cola. Merry Xmas!
Cooler Artikel, gefällt mir sehr gut!
HomeEscapes hat mich mehr Geld gekostet als alle GoG-Spiele zusammen Dabei behauptet GoG, ich hätte Pathfinder und Co mit jeweils über 700 Stunden in meinem Leben gespielt. GoG hat recht
HomeEscape spiele ich hingegen max 15 Minuten pro Tag, um meinen Kopf freizukriegen.
Unfassbar.
Sehr geehrter Herr @RainerSigl,
der Kollege Trant hat doch bereits jedem quarter dollar der 90 Milliarden in seinem Beitrag über die gesamte Bibliothek der Spider-Rope-Hero-Games Tribut gezollt.
Danke für die komplette Verblödung, die bei mir jetzt eingetreten ist, nach dem fast vollständigem Anschauen dieses Videos.
Gerade weil „Videospiele in der Mitte der Gesellschaft angekommen“ sind, habe ich langsam keine Lust mehr auf diese bzw. besser gesagt, auf den Triple-A-Massenmarkt.
Indie-Games, Leute! Da ist die Zukunft (seit Jahren)!
Würd ja den Tenor des Artikels treffen. Um Mobile Indie Games zu finden, sollte es mehr Berichterstattung geben.
Ich würds sogar noch mehr ausweiten. Reiner Journalismus hilft mir selbst auch bei PC-Games nicht, Spiele nach meinem Geschmack zu finden. Journalismus plus Diskussion und gezielte Empfehlungen à la Reddit wären empfehlenswert. PC-Games habe ich meistens dadurch gefunden, indem Ähnlich-Gesinnte auf Reddit mir etwas empfahlen. Das wünsche ich mir auch für Mobile Games.
Die Zeit kriegst Du nie wieder zurück. Und das ist gut so.
Hab dieses und das as sci-fi Klischee Video (der future Knick!!!111!!) von Trant viel zu oft geschaut
Nie käme ich auf die Idee, meiner Candy-Crush-spielenden Mutter das Label „Gamerin“ abzusprechen. Nimmt man das als Prämisse, verwundert es natürlich, dass die großen Medien nicht über Mobile Games berichten. Der Markt ist ja da.
Aber!
So sehr ich uns alle als Gamer:innen sehe, so sehr unterscheiden wir uns auch in dem Grade der Leidenschaft für Spiele. Damit meine ich nicht, dass meine Mutter bei Candy Crush nicht genauso involviert ist wie ich bei irgendeinem Spiel. Vielleicht spielt sie das sogar öfter und mit mehr Leidenschaft als ich es je bei einem anderen Spiel tue. Was ich meine ist die Bereitschaft, über das reine Spielen hinauszugehen.
Gerne zu spielen heißt nicht automatisch, sich für Spiele zu interessieren. Oder für das, was andere Menschen über Spiele denken und schreiben. Da reicht es vielleicht einfach, immer wieder das gleiche zu spielen oder alle paar Monate mal was anderen auszuprobieren, das die Algorithmen der Stores an die Oberfläche spülen.
Insofern gibt es zwar einen riesigen Markt an Gamer:innen. Aber ich glaube nicht, dass es einen nur ansatzweise so großen Markt an Gamer:innen gibt, die solche Tests lesen würden.
Nichtsdestotrotz empfinde auch ich das als Loch in der Medienlandschaft. Man könnte jetzt mit der Henne-Ei-Problematik auffahren. Denn wer weiß? Vielleicht klickt meine Mutter doch plötzlich auf einen Mobile-Games-Artikel auf Spiegel Online? Das gehört auf jeden Fall mehr ausprobiert. Denn es betrifft ja nicht nur meine Mutter, sondern auch uns, die wir uns hinter vermeintlich richtige Spielen verstecken und alles ignorieren, wo Mobile drauf steht?!
Heißt also auch: bevor wir jetzt aber Spiegel Online & Co vor den Karren spanne, würde ich erstmal die Vertreter:innen in die Pflicht nehmen, die sich groß auf die Fahne schreiben über Games zu berichten und nichtmal ansatzweise daran denken, Mobile Games als Spiel zu verstehen.