Wir sind mit Spielen groß geworden. Jetzt werden unsere Kinder mit uns groß. Bleibt zwischen Windelwechseln, Krabbelgruppe und Breifütterung überhaupt Zeit zum Spielen? Was geben Games uns mit auf dem Weg mit Nachwuchs? Geben wir unsere Liebe zu virtuellen Welten weiter? Hier gibt es Monat für Monat eine Heldinnen-Reise von der Geburt bis zum ersten eigenen Griff zum Controller.

Im grünen Wald da wo die Drossel singt
Das muntre Rehlein durch die Büsche springt
Wo Tann‘ und Fichten stehn am Waldessaum
Erlebt ich meiner Jugend schönsten Traum

(Heino, Das Schwarzwaldlied)

Draußen vor dem Fenster erhebt sich schroffes Gebirge, überzogen mit sattem, dunklem Grün. Mit einem metallischem Kloing rattern die Räder über die Gleise. Hinter der Scheibe sitze ich an einem kleinen Tischchen. Auf dem Bildschirm vor mir, wie durch ein Wunder, ist der Held meiner Kindheit auferstanden und segelt durch die Karibik. 

Christian Neeb

War früher Redakteur beim GEE Magazin, bei der Fernsehsendung Reload und beim Spiegel. Heute wechselt er Windeln, kocht Nudeln mit roter Soße, liest Geschichten vor und schreibt nebenbei als freier Autor.

Er ist ein schrecklicher Pirat, ich habe mit ihm auf Deck der Sea Monkey Voodoo-Tränke gebraut, einen verfluchten Jahrmarkt erkundet und die glühenden Tiefen unter Monkey Island. Jetzt reisen wir wieder zusammen – in der Schwarzwaldbahn in Richtung Bodensee. Ich bin auf dem Weg zu meinem Bruder, der in Konstanz lebt und arbeitet. Meine erste Reise alleine ohne meine Kinder seit beinahe fünf Jahren. Das erste Mal ohne die Kinder aufwachen, seit langer Zeit. Wie sich das wohl anfühlen wird? Durchatmen? Schmerzliches Vermissen?

Mein Zugbegleiter Guybrush Threepwood ist ebenfalls etwas älter geworden. Wie ich hat er Nachwuchs und wie ich erzählt er mittlerweile gerne mal seinem Kind davon, wie schön es früher war. Als man noch selbst Abenteuer erlebt und Geisterpiraten mit Malzbier verbrüht und Schätze gefunden hat. 

Halleluja – ein Computer

Ein mächtiger Pirat.

Während die Landschaft an mir vorbeizieht, reise ich mit Guybrush zurück zu der Insel, auf der alles begann. Auch meine Liebe zu PC-Spielen. Das erste „Monkey Island“ spielte ich mit meinem besten Kindheitsfreund auf dem Computer seines Vaters. Der war Pastor in der Kirche meiner Eltern. Nach dem Gottesdienst schlichen wir uns in sein Büro, um gemeinsam die Rätsel von Monkey Island zu lüften. 

Schon bald wurde auch mein kleiner Bruder Philipp zum Adventure-Fan. Ob „Space Quest“, „Loom“ (ja, frag mich ruhig danach) oder „Baphomets Fluch“ – nachdem wir unsere Eltern endlich von der Wichtigkeit eines eigenen Rechners überzeugen konnten (Hausaufgaben usw.) schaufelten wir alle Abenteuer in uns hinein, die wir finden konnten. Doch wir kamen immer wieder zurück zu den Pirateninseln, die von LeChuck heimgesucht wurden. 

Als ich in Konstanz aus dem Zug steige, Switch und Guybrush sicher im Rucksack verstaut, warten mein Neffe und meine Schwägerin auf mich. Wir gehen runter zum Hafen, wo die Segelschiffe leicht in der Dünung wippen, die Herbstsonne auf den Wellen glitzert. Seit zwanzig Jahren bin ich nicht mehr hier gewesen. Der Anblick macht mich sprachlos. Meine Kinder haben diesen Ort meiner Kindheit noch nicht gesehen, den Bodensee, an dem wir beinahe jeden Sommer verbrachten – mein Bruder und ich. Unsere Karibik. Jetzt wünschte ich, sie wären hier und bin gleichzeitig froh, diesen Moment einzuatmen. Das Echo meiner eigenen Kindheit zu hören, ganz leise, ganz allein.

Alle an Bord?

Und dann ist mein Bruder endlich aus der Uni zurück. Wir reden, kochen und fahren mit dem Rad. Auf die Insel Mainau, in einen Ozean aus Blüten. Wir staken mit seinem kleinen Sohn in Booten über Tümpel. Und abends spielen wir. Wie früher. Brettspiele – und die Abenteuer von Guybrush. Geisterhühner, womit füttern wir die? Und wie kommen wir ungesehen von Bord dieses höllischen Piratenschiffs? Und was ist denn nun das verfluchte Geheimnis von Monkey Island?

Wir ziehen unsere Wanderstiefel an und fahren mit dem Zug um den See. Bis nach Bregenz, wo wir auf den Pfänder steigen. Weil ich Käsespätzle auf der Alm essen will, wie früher. Wir wandern zurück, über verschlungene Pfade wie im wirren Wald von Meleé Island. Bis wir wieder am See angekommen sind und unsere Bahn kommt. Ob meine Tochter und mein Sohn auch irgendwann zusammen wandern und an früher denken? Welches Abenteuer wird sie verbinden? 

Abenteuer. Auch ohne Piraten. Quelle: Privat.

Während die Landschaft an mir vorbeizieht, reise ich mit Phil zurück zu der Insel, auf der alles begann. Lindau war das Epizentrum unserer Familienurlaube. Vieles hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten verändert. Nur „mein“ Comic-Laden ist noch da. Gleich in der Straße neben dem Bahnhof. Wie oft ich aus unserer Ferienwohnung etwas entfernt mit dem Rad hierhergefahren bin? Ich weiß es nicht mehr, aber als ich durch die Türe gehe ist alles wieder auf Anfang. 

Ich gehe durch die Regalreihen, die voll sind mit Wohlbekanntem und Neuem. Als ich schließlich mit einem Band zur Kasse gehe, steht die Besitzerin Susie vor mir. Wir tragen beide Masken. „Schön, dass es euch noch gibt“, sage ich. „Du bist doch der Chrischtian“, sagt sie. „Du warst doch einer von meinen ersten Kunden.“ Nach zwanzig Jahren. „Komm doch mit deinen Kindern mal her.“ Ich hab Tränen in den Augen.

Ein unerwarteter Schatz 

Auf der Rückfahrt löse ich das Rätsel von Monkey Island dann ganz für mich alleine. Im Spiel verrate ich Guybrushs Sohn, was der Schatz von Monkey Island wirklich ist: Die Menschen, denen ich begegnen durfte. Die Freunde, die ich unterwegs gefunden habe. Die Schwertmeisterin Carla, der dämonische Totenschädel Murray, Stan mit seinen gebrauchten Schiffen – die große Liebe Elaine. Kurz vor der Einfahrt in den Zielbahnhof rollen die Credits. Ich kann es nicht erwarten, meinen Kindern von meinem Schatz zu erzählen.

Christian Neeb Freier Autor

CN

War früher Redakteur beim GEE Magazin, bei der Fernsehsendung Reload und beim Spiegel. Heute wechselt er Windeln, kocht Nudeln mit roter Soße, liest Geschichten vor und schreibt nebenbei als freier Autor.

6 Kommentare


Kommentare

  1. Avatar for VfBFan VfBFan says:

    Ich weiß genau, auf den Meter, wo dieses Landschaftsfoto aufgenommen wurde. :slightly_smiling_face:
    Bin wohl schon zu oft hoch und runter gefahren.

    Beim Abschnitt im Buchladen sah mein Gesicht, glaube ich so aus … :smiling_face_with_tear:

  2. Habe diesen Reisebericht sehr gerne gelesen und mich dabei ebenso an meinen magischen Urlaubsort aus Kindertagen zurückgeträumt. Der lag zwar in der Nähe von Bordeaux am Atlantik und nicht am Bodensee… Aber vor allem dieses magische Zurückkehren hat die Kolumne - wie (offenbar) auch Return to Monkey Island - für mich einfach sehr gut eingefangen. Vielen Dank! :slight_smile:

  3. Wieder ein so toller Text! Danke dafür. Ich glaube, Du wirst damit jeden, der ihn liest, ein kleines bisschen seine eigene Vergangenheit entführen!

  4. Avatar for KaFour KaFour says:

    Cooler Text! Gefällt mir aus der Reihe Ready Parent One bisher am besten! Und Extra-Kudos für die korrekte Verwendung des Wortes Dünung :slight_smile:

  5. Hach, ich mag Ready Parent One einfach sehr gerne. Dieser Text holt mich natürlich besonders ab: Schwarzwaldbahn, Konstanz, Segelboote, Bodensee, Pfänder,… :sparkling_heart: :sparkling_heart: :sparkling_heart:

  6. Ging mir genau so. :blush:

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