Brief & Sigl 29: Das Alter-Scheiß-Manifest

Alle zwei Wochen setzt sich Rainer an seine Tastatur und schreibt dir einen Brief. Ja, dir.

Es geht um die großen, wichtigen, letzten Dinge: Sex, Tod, die Liebe, das Leben, den Sinn des Ganzen. Und um Videospiele. Große, kleine, teure, obskure, die Menschen, die sie machen, kritisieren, spielen und lieben. Kurzum: Es geht ans Eingemachte. „Brief und Sigl“ ist eine Depesche aus dem Ludoversum.

Wien, 31.12.2022 

Liebe Leserin, lieber Leser,

Wenn du das liest, ist das Jahr 2022 schon im Rückspiegel und damit Geschichte. In den letzten Wochen haben hier und anderswo Rückblicke die Content-Fabriken gefüllt: Die besten Spiele des Jahres, die größten Aufreger, Skandale, Misserfolge. Die Frage, ob das vergangene ein „gutes Spielejahr“ war, wird mit absurder Ernsthaftigkeit durchdekliniert in Foren, Twitter-Diskussionen, Meinungsartikeln. Diese Tage jeden beliebigen Jahres sind, polemisch gesprochen, die einzigen, in denen der Blick in diesem Medium nach hinten gerichtet ist.

Dass sich so betrachtet dann perfekt und mit höchstmöglichem Aufwand auf Massengeschmack hingetrimmte Allerweltsallgemeinplätze wie das letzte God of War als selbstverständlich atemlos bejubelte GOTY-Kandidaten einfinden, haben wir ja hier schon mal besprochen; an dieser Stelle übrigens zu diesem Thema hier der vermutlich beste Text über dieses Spiel, den ihr ziemlich sicher bisher übersehen habt, über „objektiv gutes Gamedesign“.

Aber egal, ich bin nicht hier, um schon wieder auf AAA hinzuhacken. Obwohl, ja, gut, es geht  um einen trotzdem damit eng verbundenen und mit der Megaindustrie der leicht konsumierbaren Unterhaltungsprodukte einhergehenden Umstand, den ich dann doch bedauere. Wie oben gesagt: Der Blick von SpielerInnen, Presse und Industrie richtet sich kaum je in die Vergangenheit. Das ist schade, hat aber durchaus allgemein etwas mit der Aufmerksamkeitsindustrie zu tun, mit den Content-Mühlen und den sich immer schneller drehenden Social-Media-Bühnen, die jede Sekunde, jede Stunde, jeden Tag mit neuem Futter beliefert werden müssen. 

Der Zwang, immer das nächste große Ding zu hypen, immer das Neue am Horizont zu suchen, in die Zukunft zu starren, als wäre dort endlich, endlich irgendwann einmal ein Ziel zu erreichen, hat beileibe nicht nur die Gamesindustrie befallen. Aber irgendwie manifestiert sich dieser allgemeine Trend zum Herbeifiebern des Produkts in Beinahe-Greifweite und die gleichzeitige Missachtung des soeben endlich verfügbar Gewordenen hier besonders penetrant. 

Es ist so altbekannt wie absurd: Nie wieder wird auch nur annähernd so viel über ein beliebiges Videospiel geschrieben  wie vor seiner Veröffentlichung. Previews, Trailer-Analysen, erste Eindrücke, „exklusive“ Vorabversionen, dann endlich ein Test, am besten direkt am Tag des Releases, und dann – Schweigen, höchstens noch ein wenig Klick-Nachleben in den Walkthrough-Content-Minen, das war’s für die allermeisten Spiele, denn schon ist der nächste hoffnungsvolle Kandidat in Sicht, der zweifelsohne viel, viel, VIEL besser sein wird als alles, was jetzt da ist. 

Das ist einerseits dem Technikfokus des Mediums geschuldet, in dem zumindest auf dem Papier ein ständiges Schöner, Besser, Schneller geliefert wird, und das seit Jahrzehnten. Aus Sicht der Industrie ist diese Fixierung auf die Zukunft bei gleichzeitiger Vergangenheitsignoranz  verständlich, denn der Long Tail läuft auch ohne mediale Begleitung meistens von selbst, der Theaterdonner vor Release sorgt aber für Aufmerksamkeit, Vorfreude, irrationale Pre-Order-Manie und Enthusiasmus, kurzum: Hype. Dass ich den nicht wahnsinnig schätze, mag mir als fies-grummelige Verweigerung des gemeinsamen Vorfreudeeuphorie als Spielverderberei ausgelegt werden. Ich trag’s mit Fassung.

Was dem Ganzen zum Opfer fällt, ist aber durchaus beklagenswert. Nicht nur, dass dieser Zirkus den Blick der meisten eben nur auf das riesige AAA-Feld verengt, bleibt auch ein Reiz auf der Strecke, der in anderen Medien zumindest historisch einfacher genossen werden konnte. Abgesehen von sehr speziellen Retrozirkeln, die – sorry!!! – nicht selten die Nostalgie als Selbstzweck leben und sich auf das nachträgliche Abfeiern der eigenen Jugend spezialisieren, geht der Blick auf die unmittelbare und mittlere Games-Vergangenheit nämlich meist ins Leere.

Das Stöbern in Schachteln voller alter Vinyl-Kostbarkeiten, das Durchforsten riesiger Buchläden und vor allem gewaltiger Bibliotheken hält für LeserInnen und Musikfreunde einen Zauber bereit, der bei Games kaum geschätzt wird. Das hat mit der Digitalität des Produkts zu tun, aber das Durchblättern der eigenen Geschichte, der obskuren, seltsamen Nischen und Nebenschauplätze, das Forschen und Wiederausgraben ist vielleicht auch deshalb weniger beliebt, weil zu oft immer noch diese „Vorgänger“ eher als unvollkommene Vorstufen auf einem imaginierten Weg hin zu einer Art Perfektion wahrgenommen werden denn als eigenständige kulturelle Leistungen ihrer Zeit. Das mag im Sinn einer rein auf Pixel und Polygone bezogenen Technikfixierung stimmen, aber nicht im Sinn einer Kulturproduktion.  

Vielleicht, liebe Leserin, lieber Leser, renne ich damit bei dir ohnehin offene Türen ein, denn, klaro: Als Abonnent dieser spielkulturellen Publikation hast du sowieso einen differenzierteren Blick auf dieses Medium als die meisten da draußen. 

Trotzdem sei an dieser Stelle ein von mir erstmals im Jahr 2006 verfasstes Manifest wieder vor den Vorhang geholt und besonders für Videospiele bekräftigt, nämlich das immer noch hübsch betitelte „Alter-Scheiß-Manifest“.  Das geht so:

Jeden Tag überschütten uns die Medien mit den allerneuesten Neuigkeiten. Der Aktualitätswert einer Nachricht ist oft höher als der tatsächliche Wert. Das hat zur Folge, dass in dieser Lawine, die immer dem Neuesten hinterherhechelt, viele hervorragende Dinge begraben werden – wegen Platzmangel, es gibt ja täglich so viel Neues.

Das Alter-Scheiß-Manifest sagt deshalb: Nix ist zu alt, um sein Lob zu singen. Wer sagt, dass das Obskure, Untergegangene von gestern nicht schon wieder Aktualität besitzt? Keine Scheu, alten Scheiß zu posten. Gebt uns alten Scheiß! Denn wir haben sonst nur den neuen Scheiß. Und den haben ohnedies alle. 

Also bitte: Mehr alten Scheiß vor den Vorhang – und das nicht nur in den wenigen Wochen am Ende des Jahres, in denen wir kurz einnmal innehalten und zurückschauen. Ich glaube, das haben Spiele im Jahr 2023ff verdient.  Happy New Year!

Dein

PS: Und weil das besonders gut ans Ende dieses speziellen Briefes passt, hier ein Spiel, das ich euch in diesem Sinne ans Herz lege: Spielt doch Northern Journey. Ich glaube, das habt ihr bisher vor lauter neuem Scheiß nicht genug gewürdigt.

2 Kommentare


Kommentare

  1. Sehr geehrter Herr @RainerSigl,

    an folgender Stelle

    Der Zwang, immer das nächste große Ding zu hypen, immer das Neue am Horizont zu suchen, in die Zukunft zu starren, als wäre dort endlich, endlich irgendwann einmal ein Ziel zu erreichen […].

    aus Ihrem gelungenen Text musste ich an das Objekt klein a aus der lacanianischen Psychoanalyse denken. Durch diese Verbindung fallen mir auf Anhieb zwei weitere Textideen ein. Aber das ist vielleicht etwas für einen viel
    späteren Brief & Sigl.

    Dass Sie am Ende bewusst auf eine anale Sprache zurückgreifen („mehr alten Scheiß“), hat mich (wie sicherlich von Ihnen intendiert) zum Schmunzeln gebracht.

    Auch fernab dieser kleinen Beobachtungen hat mich Ihr Text wie meistens (nicht immer) erheitert.

  2. Tja, ich lebe nicht umsonst circa 500m von Freuds Couch entfernt. Danke für die Ergänzung, auf ein gutes Neues!

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