Brief und Sigl 32: Von der Rolle

Alle zwei Wochen setzt sich Rainer an seine Tastatur und schreibt dir einen Brief. Ja, dir.

Es geht um die großen, wichtigen, letzten Dinge: Sex, Tod, die Liebe, das Leben, den Sinn des Ganzen. Und um Videospiele. Große, kleine, teure, obskure, die Menschen, die sie machen, kritisieren, spielen und lieben. Kurzum: Es geht ans Eingemachte. „Brief und Sigl“ ist eine Depesche aus dem Ludoversum.

Wien, 10.2.2023 

Liebe Leserin, lieber Leser,

puh, was bin ich froh, zum Thema JKR und “Hogwarts Legacy” schon vor elf Monaten an dieser Stelle alles gesagt zu haben, denn mal ehrlich: Mehr fällt mir auch heute nicht dazu ein. 

Das verschafft mir die Gelegenheit, diesmal ein wenig grundlegender zu werden und statt an einem einzelnen Spiel an einem Trend herumzumäkeln, der im Gaming noch viel weiter verbreitet ist als Kunst von schlechten Menschen. Obwohl, irgendwie war der Anlass natürlich dann doch wieder das Open-World-Rollenspiel mit den spitzen Hüten, denn schon vor dessen Release hat eine kecke Gegenüberstellung von geleakten Inventory-Screenshots auf Twitter für ein wenig Aufregung gesorgt.

In einem Tweet, der auf die Hogwarts-Inventorys Bezug nimmt,  sieht man die Charakter-Verwaltungsseiten von God of War, Destiny 2, Dragon Age Inquisition und The Witcher 3, und die Ähnlichkeiten sind unübersehbar. Es gibt natürlich jeweils den Charakter relativ groß zu sehen, doch umrandet und eingefasst werden die Figuren von Statistiken, kleinteiligen Verwaltungs-Paneelen und einem ganzen Haufen Menüs, deren Beherrschung zur korrekten Verwaltung der jeweiligen Spielfigur scheinbar unabdingbar nötig ist.

Klar, wirst du vielleicht jetzt sagen: Das sind alles Rollenspiele! Oder zumindest Actionspiele mit Rollenspielanteil. Die brauchen naturgemäß Statistiken! Wie sonst soll man wissen, ob die neue Armbinde des eisigen Frosts jetzt 3,2% Elementarschaden macht oder stattdessen vielleicht doch nur die Giftresistenz um 5% erhöht? Wie soll ich denn sonst abwägen, ob die 10% zusätzliche Bleed-Chance oder doch lieber die +1 STR beim Kampf gegen den nächsten Oberboss zum Einsatz kommen können? Rollenspiel! ROLLENSPIEL!

Auf diese Einwände habe ich eine wunderbar passende Antwort, die ihr an dieser Stelle zuhause durch leichtes Anspitzen der Lippen und furzähnliches Prusten selbst lautmalerisch hier einfügen dürft. Rollenspiel, my ass. Der Irrglaube, Rollenspiele hätten von ihrem Wesen her prinzipiell mit Statistiken, Charaktertabellen und Verwaltungsbürokratie zu tun, mag zwar durch den Aufstieg der paradigmatischen Spielpraxis von Dungeons & Dragons weit verbreitet sein, er beruht aber auf einem grundlegenden Missverständnis. 

Die ganzen Zahlen, die D&D, DSA und wie sie alle heißen zum Festnageln einer erzählten, gemeinsam halluzinieren Spielwelt und ihrer Bewohner einfordert und etabliert haben, waren nie als Selbstzweck gedacht, sondern im Gegenteil: Durch sie sollte eine Welt und ihr Funktionieren möglichst realistisch simuliert werden. Das übergeordnete hehre Ziel einer jeden analogen Rollenspielrunde ist aber naturgemäß, diese Simulation beim Spielen dann wieder verschwinden zu lassen – das Würfeln, Buchführen und Tabellenausfüllen ist nur das Mittel zum Zweck. Umso schräger, dass moderne Videospiele genau diesen Zahlen- und Tabellenkram nun seit Jahren wieder stolz nach vorn kramen, statt ihn völlig unsichtbar unter der Motorhaube zu belassen, wo er eigentlich besser aufgehoben wäre.

Warum sollte das Wesen des „Rollenspiels“ in dieser umständlichen Verwaltung liegen? Ein “Rollenspiel” im Wortsinn gibt’s bei Kindern, wenn sie Familie oder Paw Patrol spielen, ganz ohne Charakterbogen – und auch in der Psychologie, wo der Begriff herkommt, ist damit ein improvisiertes Schauspiel und anschließend daran ein psychotherapeutisches Verfahren gemeint, in denen kaum je quantifiziert wird. 

Auch im Pen&Paper-Rollenspiel selbst gibt’s im Gegensatz zur Videospielwelt übrigens längst den Trend hin zum Verschwinden der “Simulationsmechanik”, also eine Abkehr von Tabellen und Würfeln. Seit den Rollenspielen von White Wolf, allen voran „Vampire: The Masquerade“, liegt der Hauptfokus auf Narrative und Storytelling statt Verwaltungsmathematik. Und moderne Indie-Pen&Paper-Rollenspiele (ja, auch hier gibt es natürlich einen lebhaften Underground) wie etwa das faszinierende „My Life With Master“ verlassen sich zwar auf ein simples, elegantes mechanisches System im Hintergrund, sind in der tatsächlichen Ausführung durch die Spielenden ihren psychologischen Gesprächswurzeln weitaus ähnlicher als D&D und Co.

Wer also nun die Notwendigkeit der hyperlangweilig ähnlichen und, nebenbei bemerkt, regelmäßig mit GUIs aus der Usability-Hölle ausgestatteten Verwaltungs-Fleißaufgaben mit Verweis auf “rOLLeNsPiEL” zu argumentieren sucht, beweist damit am ehesten sein Unverständnis des Wesens des Rollenspiels. 

Natürlich geht’s aber eigentlich wieder mal um wirtschaftliche Überlegungen. Derartig auf Statistik und Tabellen  setzende “RPG-Systeme” in Videospielen, vor allem aber: in Spielen, die jetzt, wie God of War oder Destiny, in Sachen Gameplay nicht unbedingt klassische Rollenspielkost sind, haben den Sinn, die Spielzeit künstlich zu verlängern. Die Scheinkomplexität soll immerhin das Publikum mit der Tatsache versöhnen, dass hier Vollpreis oder eine Subskriptionsgebühr anfallen. Breite Teile der Spielerschaft haben sich an diese Mechaniken gewohnt, vielen ist eventuell auch die Fantasie abhanden gekommen, sich ein Rollenspiel ohne Tabelle vorzustellen – eigentlich ein trauriger Gedanke.

Die durch die Charakter-Screens plakativ gezeigten “Rollenspielsysteme” ermöglichen schlicht eine Art von  “busywork”, ein künstlich erzeugtes Kleinklein, das als Füller neben Story und basalem Gameplay-Loop für die “hundert Stunden Spielspaß”  sorgen soll, die man heutzutage halt so für sein Geld erwartet. Diese RPGification, oder, eingedeutscht, diese “Rollenspielifizierung” missversteht nicht nur das Wesen des Rollenspiels, sondern gar nicht so selten auch jene Genres, die durch ihre Aufpfropfung “aufgewertet” werden sollen. Mal ehrlich: Die Notwendigkeit, in einem Spiel wie God of War durch kleinkrämerisches Vergleichen von Buffs und Boni einen temporär optimalen Loadout auszutüfteln, hat weder als Element eines Rollen- noch eines Actionspiels so richtig viel Daseinsberechtigung. Zumindest aus meiner, sehr subjektiven Sicht.

Ob das Spiel mit den Zauberlehrlingen dann vielleicht in dieser Hinsicht doch noch einmal die Kurve gekratzt hat und ein revolutionär neues Verständnis dessen ermöglicht, was es heißen könnte, in einem Spiel eine Rolle zu verkörpern? 

Hm. Ich werde es nie erfahren. Ich bin mir aber relativ sicher, dass ich auch in dieser Hinsicht nix versäume.

Dein

2 Kommentare


Kommentare

  1. Avatar for VfBFan VfBFan says:

    Och je, God of War (2018) mit seinem mit Zahlen angeblich seriös unterfuttertem Ausrüstungswahn, schlimm. Ragnarök soll noch schlimmer sein, und doch mittlerweile einen reingepatchten Magic-Button haben, der einfach die beste Ausrüstung anlegt. Stimmt das?
    Shadow Warrior 2 „musste“ ich deinstallieren, weil mir dieses elendige Zahlengeschubse mit hier 0,1% und da 0,9‰ anderer Statuswert sowas von auf den Senkel ging. Ganz böser Rückschritt zum ersten Teil.
    Gibt bestimmt noch viel mehr Murks in dieser Hinsicht. Bin am Handy tippen und halte mich deshalb kurz.

    Das Hauptproblem an dem Hin-/Hergeschiebe und dem Vergleichen (am „besten“ noch ohne optische oder sonstwie Hilfe :face_exhaling:) der Zahlen ist doch, dass sich das nullkommanull im Gamedesign und der Spielwelt widerspiegelt. Oder woran erkenne und merke ich, dass die Axt jetzt ganze 4,8 Prozent stärker zuschlägt?
    Ach ja, an der Lebensleiste am Gegner steht eine größere Zahl die ihm von seinen Trefferpunkten abgezogen wird. Oh man …

    Danke für den tollen Artikel @RainerSigl und volle Zustimmung von mir.

  2. Auch im Pen&Paper-Rollenspiel selbst gibt’s im Gegensatz zur Videospielwelt übrigens längst den Trend hin zum Verschwinden der “Simulationsmechanik”, also eine Abkehr von Tabellen und Würfeln. Seit den Rollenspielen von White Wolf, allen voran „Vampire: The Masquerade“, liegt der Hauptfokus auf Narrative und Storytelling statt Verwaltungsmathematik.

    Ergänzend können an dieser Stelle (stellvertretend) für den Trend der regelleichten und auf Erzählung fokussierten P&P-Systeme noch Powered by the Apocalypse und das Cypher System von Monte Cook genannt werden.

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