Brief&Sigl 34: Main Character Syndrome

Alle zwei Wochen setzt sich Rainer an seine Tastatur und schreibt dir einen Brief. Ja, dir.

Es geht um die großen, wichtigen, letzten Dinge: Sex, Tod, die Liebe, das Leben, den Sinn des Ganzen. Und um Videospiele. Große, kleine, teure, obskure, die Menschen, die sie machen, kritisieren, spielen und lieben. Kurzum: Es geht ans Eingemachte. „Brief und Sigl“ ist eine Depesche aus dem Ludoversum.

Wien, 11.3.2023 

Liebe Leserin, lieber Leser,

der Name Chris Franklin sollte so manchen von euch bekannt sein: Unter dem Namen Errant Signal macht der Mann seit über einem Jahrzehnt auf YouTube extrem schlaue Games-Kritik. Ehrlich, falls ihr ihn bisher noch nicht gekannt haben solltet, habt ihr mit seinen über 170 Videos jetzt mal zumindest ein Wochenende gut angefüllt

Wie so oft hat mich ein Tweet zum Thema meines Briefes diesmal gebracht, und zwar hat Franklin dort seine ermattete Begeisterung für das Open-World-Design von Bethesda thematisiert, und zwar anlässlich des jetzt langsam in Schwung kommenden Hypes für Starfield, das bekanntlich im September erscheinen wird. 

Er schreibt dort:

After Fallout 4 I made peace with the idea that Bethesda’s entire approach to open world RPG design is something I simply have no interest in, so I wish Starfield good luck but oh my god I do not really want to play it. […] My hangup is that Bethesda sell a power fantasy that emphasizes choice without consequence. And that’s cool! I dig me some power fantasies of my own, and if Bethesda’s style is your vibe I hope Starfield rules. But I don’t want to be the chosen one who saves the universe *and* head of the thieves guild *and* assassin’s guild *and* fighter’s guild *and* mages guild *and* owner of a house in every town *and* the richest person in the world *and* a vampire *and* a werewolf *and* choose who etc etc

Netter und unkonfrontativer kann man seine persönliche Präferenz gegenüber einem Spiel kaum formulieren, aber das nur nebenbei bemerkt. Ich stimme Franklin hier aus dem Bauch allein deshalb zu, weil ich seit Jahren mit dem Open-World-Genre so meine Probleme habe. Meistens bleibt vom irgendwann mal vage abgegebenen Versprechen einer offenen Welt, in der ich meine persönliche Idee vom Abenteuer verwirklichen kann, nämlich nichts anderes übrig als ein riesiger Themenpark voller einzelner Attraktionen, zusammengehalten von einer zerstückelten, aber letztlich linearen und gern auch noch in Cutscenes erzählten 0815-Geschichte. 

Ich hab zu diesem Thema schon öfter etwas geschrieben, etwa hier, hier und, alles zusammenfassend, natürlich hier, und dem Vorspann zum letzteren Text habe ich auch heute, acht Jahre später, wenig hinzuzufügen: Statt der großen Freiheit bietet das Open-World-Paradigma aktueller Blockbuster immer noch meistens seelenlose Vergnügungsparks für All-inclusive-Touristen. Glorreiche Ausnahmen wie Elden Ring oder, mit (IMHO) Einschränkungen, auch Zelda – Breath of the Wild bestätigen auch 2023 die Regel.

Ist halt so, könnte man sagen, dann gefällt mir – bzw. Chris Franklin – das Genre halt eben nicht. Ein Befund, auf den ich mit einem leidenschaftlichen „Jein“ antworten müsste. Ich mag die Idee, das Versprechen von Open World-Games nach wie vor. Meist wird das Versprechen dieses Genres aber nicht eingelöst, weil stattdessen etwas weitaus Gefälligeres gemacht wird.

Ich finde an Franklins Kritik in seinen drei Tweets ein Detail besonders bemerkenswert, das in meinen bisherigen Abrechnungen mit dem hyperpopulären Genre noch wenig Beachtung gefunden hat. „A power fantasy that emphasizes choice without consequence“, das  wäre der Kern von Spielen wie Fallout und Skyrim, also Spiele, die nur bedeutungslose Auswahlmöglichkeiten anbieten würden und in denen wir am Schluss so oder so als Universal-Held der Nabel der Spielewelt sind. 

Diese Kritik ist nicht leicht von der Hand zu weisen, oder viel eher: Viele, vielleicht auch du, werden hier nicht einmal den Ansatzpunkt für die Kritik erkennen. Ja klar sind Spiele, auch oder vielleicht sogar besonders Open-World-Games, Power Fantasies, und natürlich sind wir der Nabel der Welt – that’s the point! Und was könnte hier mit „choice without consequence“ gemeint sein? Ich darf doch wohl Megaton sprengen oder nicht – ist das etwa nix?

Es ist, wie so oft, kompliziert, denn die bedingungslose Unterordnung der ganzen Spielwelt unter die übermächtige Heldenfigur des Spielers ist eine Konvention, die in sehr vielen Spielen zentral ist. Sie bedeutet, dass letztlich nur wir hier Agency, also Handlungsmacht haben; dass wir, als Chosen One/Dovahkin/Vault Dweller/wasauchimmer dann doch nicht nur Teil dieser offenen, freien Spielwelt sind, sondern immer dezidiert ihr einziger Daseinszweck bleiben. Die Wahlmöglichkeiten, die sich uns hier im Verlauf der Missionen von Haupt- und Nebenhandlungen anbieten, sind letztlich auch nur jene Orte, an denen die Weichen gestellt werden – anders ließe sich keine Geschichte erzählen, oder?

Vielleicht umschreib ich mein (und, so vermute ich, Chris Franklins) Dilemma mit diesem Designparadigma lieber so: Wenn ich als Besucher einen aufwendig gestalteten Theme-Park betrete, darf ich mich über perfekt konstruierte Achterbahnen, aufregende Geisterhäuser, coole Lazer-Tag-Arenen und stimmig eingerichtete Gastronomie freuen. Ich kann mir aussuchen, was ich wann mache, vielleicht gibt es sogar eine Schnitzeljagd, die mich, von Schauspielern begleitet, an spannende Orte im Park führt. Vielleicht gibt’s auch was zu entscheiden, aber immer nur innerhalb genau der Bedingungen, die hier vorgegeben sind – klar, so ist das eben.

Das ist alles würdig und recht – aber für mich zumindest war das Versprechen und die Verheißung einer offenen Spielewelt immer eine andere. Ich wollte, auch im echten Leben, nie in einen Themenpark. Ich wollte immer lieber in eine richtige Welt (ja, zugegeben, das klingt bei Videospielen jetzt ein bisschen komisch, aber du weißt schon, was ich meine). Das wäre dann eher so wie ein Aufbruch zum Flughafen mit dem One-Way-Ticket in der Tasche, Rucksack am Rücken, und keine Ahnung, was mich am Zielort erwartet; eine Großstadt? Die Berge? Das Meer? Durchfall, eine Enttäuschung oder vielleicht die große Liebe? 

Die Entscheidungen, die ich bei so einer Reise treffen kann und muss, wenn meine Psyche nicht gerade unter dem fiesen Main Character Syndrome leidet, sind nicht bedeutungslos, sondern haben Gewicht, auch wenn sie nur mich und nicht gerade das Schicksal einer ganzen Spielwelt betreffen. Das macht für mich jede Open-World-Sandbox spannender als die großen, letztlich linear von meinem Leben als Superheld erzählenden Single-Player-Open-World-Epen. Gerade das Gefühl meiner eigenen Irrelevanz gehört für mich zu einer echten, lebenden Spielewelt, in der ich ein virtuelles Leben führe und etwas erlebe, dringend dazu. 

„A power fantasy that emphasizes choice without consequence“ – Chris Franklin findet diese Spielart von Open-World-Games inzwischen eher fad, und ich bin geneigt, ihm zuzustimmen. Aber klar, genauso wie er weiter schreibt: Ist eh cool – darf jede und jeder, wie er oder sie will. Für mich zumindest ist es aber auch auf kurz oder lang immersiver, einmal nicht der Nabel der Welt zu sein – und dafür ein kleines bisschen sich echter anfühlende Entscheidungsfreiheit zwischen dann halt weniger welterschütternden Optionen geschenkt zu bekommen.

Dein

Rainer Sigl Freier Autor

RS

Schreibt und spricht seit 2005 (nicht nur) über Videospiele. Lebt in Wien.

2 Kommentare


Kommentare

  1. Sehr interessanter Artikel, danke dafür!

    Absolut d´accord. Banner Saga sei das perfekte Beispiel, das die Entscheidungspfade fast zu sehr ins Extreme treiben. Eines der besten Spiele, die ich überhaupt jemals gespielt habe! Ein Wow-Effekt sondergleichen. Die Gründe sind vielfältig, und einer davon sind sicher die unwiderruflichen Entscheidungen.

    Aber: je nach Laune will ich auch manchmal nix anderes als einfach nur in einer Open World herum irren, Kräuter und Gegenstände sammeln und dabei leveln. Das ist doch völlig legitim und macht dann genau soviel Spaß wie eine stringent erzählte Story mit vielen, vielen Multi-Universen (Punch intended, vor kurzem „Everything Everywhere all at Once“ geguckt :wink: ).

    Wie jede und jeder je nach Stimmungslage. Ich liebe es, dass es Spiele für unterschiedliche Bedürfnisse / Momente gibt. Das soll ruhig so bleiben.

  2. Danke (mal wieder) für einen tollen Text und Denkanstoß.

    Ich selber habe in den genannten Bethesda Spielen vielleicht einiges an Storysträngen verpasst (sofern ich sie nicht wie Fallout New Vegas und 3 ein weiteres Mal gespielt habe) da ich es immer für meinen Charakter total behämmert fand unterschiedlichen Gilden, Fraktionen o.ä. beizutreten. Insbesondere in Skyrim. Habe mal hier und da eine Quest gemacht wenn es sein musste, aber fand es nicht plausibel das bis zum Anführer zu verfolgen. Ich kann im echten Leben auch nicht beim Verfassungsschutz und bei den Nazis…oh wait.

    Und bei Fallout 3 habe ich beim ersten spielen am Ende durch eigene Unachtsamkeit die Option gewählt die ich nicht wollte, nämlich die Mutanten zu töten (obwohl ich das halbe Game mit meinem guten Bruni Fawkes unterwegs war). Und das fand ich dann doch wiederum ganz gut, weil es dem megalomanischen SuperSavior Anspruch, den der Protagonist ja durch die Storyentwicklung innehat, gebrochen wurde.
    Da meine ganzen vermeintlich guten Aktionen auf etwas Schreckliches Hinausliefen, das ich selbst gar nicht gewollt habe.

    Insofern, bring it on Starfield, ich werde auch dich falsch spielen können :smiley:

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