Wir sind mit Spielen groß geworden. Jetzt werden unsere Kinder mit uns groß. Bleibt zwischen Windelwechseln, Krabbelgruppe und Breifütterung überhaupt Zeit zum Spielen? Was geben Games uns mit auf dem Weg mit Nachwuchs? Geben wir unsere Liebe zu virtuellen Welten weiter? Hier gibt es Monat für Monat eine Heldinnen-Reise von der Geburt bis zum ersten eigenen Griff zum Controller.
Bildschirm an, Konsole an, Controller an. Neustart. Wir sitzen zu zweit auf dem Teppich vor dem Fernseher – meine Tochter und ich. Und jetzt beginnt hier ein neuer Level, nachdem ein anderer geendet hat. Alles ist neu, alles ist anders.
„Ich bin das kleine Reh und du der kleine Wolf“, sagt sie zu mir.
Mein Kopf dreht sich.
Hier beginnt mein letzter Text für Wasted, die letzte Episode von „Ready Parent One“. Ich beginne ihn ein paar Tage nach meinem 40. Geburtstag zu schreiben. Der Abschied fällt mir schwer. Ich hatte ihn nicht eingeplant. Es hätte noch viele Dinge gegeben, über die ich schreiben wollte, über die ich nicht schreiben wollte und doch gemusst hätte. Übers Scheitern, über Abgründe, das Zerbrechen, übers Aufstehen. Jetzt muss ich sie nicht mehr schreiben und bin erleichtert und doch traurig.
Aber mit dem Abschied kommt auch ein Anfang. Er kommt zu einer Zeit, in der sich gerade so viele Dinge bewegen in unserem Leben, in meinem Leben. Meine Elternzeit ist vorbei. Die Care-Arbeit habe ich nach über einem Jahr daheim mit einer anderen Arbeit getauscht. Mit einer, die Geld bringt für uns. Vollkommen absurd, dass wir nicht dafür bezahlt werden, wenn wir uns um unsere Kinder kümmern, kochen, wickeln, den Haushalt machen und ein Zuhause. Damit sie wachsen können und lernen.
Laufen lernen
„Wie laufe ich denn, Papa?“
„Du musst den kleinen Knubbel in die Richtung drücken, in die du gehen willst.“
„Muss ich nach vorne?“
„Ob vorne oben ist oder links oder rechts, siehst du auf da. Hier ich helfe dir.“
Wer bringt mir bei, wie ich meinen Kopf und meinen Körper umschalte? Die sich so sehr daran gewöhnt haben, nur im hier und jetzt zu funktionieren. Schnell zuzugreifen, wenn ein kleiner Fuß sich verheddert hat und der nächste Sturz droht. Bei Hunger schnell etwas zu kochen. Bei Langeweile zu unterhalten. Jetzt sitzen mein Kopf und mein Körper wieder acht Stunden vor einem Bildschirm, der mit Worten gefüllt werden will. Der voller Fragen ist, die ich beantworten soll und die nichts mit Puzzeln und Dinos und Naschi zu tun haben. Oder haben sie das doch?
„Soll ich jetzt springen, Papa?“
„Ja, versuch mal auf den Baumstamm und dann kommst du zu mir rüber.“
Welches Spiel soll meine Tochter zuerst spielen? Noch so eine Frage. Ich habe lange darüber nachgedacht. Mir ausgemalt, wie sie mit Mario über einen Abgrund springt, mit Link Unkraut zerhackt oder vielleicht doch lieber mit Captain Toad auf Schatzsuche geht. Was für eine Entscheidung. Wir haben lange gewartet. Der Fernseher war bis zu ihrem vierten Lebensjahr nur ein schwarzer Rahmen, der im Wohnzimmer hing. Dann der Start mit der ersten Folge vom kleinen Maulwurf. Ihr erster Film „Mein Nachbar Totoro“. Muss sich auch ihr erstes Game daran messen? Legt das einen Grundstein für später?
Das Fundament
„Was war eigentlich dein erstes Spiel, Papa?“
„Das weiß ich gar nicht mehr so genau. Vielleicht war das ‚Paper Boy‘. Da musste man Zeitungen austragen. Dann noch was mit Piraten und nachher hatte ich einen Gameboy.“
„Was ist ein Gameboy?“
„So ein kleiner Kasten, auf dem ich Mario gespielt habe.“
„Der immer Wuhu ruft!“
Der-immer-Wuhu-ruft war auch mein erster Gedanke. Wie sehr mich „Super Mario World“ verzaubert hat. Dödödedödö – Pling! Also einfach wieder die beste Konsole des Universums entstauben und mit meiner Tochter in 16-Bit-Welten abtauchen? Aber mache ich das dann eigentlich für sie, oder doch eher für mich? Weil mein Früher so schön war, das ich es mit ihr teilen will. Aber vielleicht sollte ich ihr ein eigenes Früher schenken? Was würde sie begeistern? Tiere, anderen helfen – da war doch dieses neue Switch-Spiel „Blanc“.
Ein Wölfchen und ein kleines Reh haben sich verirrt. Gemeinsam müssen sie den Heimweg antreten – und sich gegenseitig helfen. Der Wolf kann mit seinen scharfen Zähnen Seile zerkauen, das Reh mit dem Kopf schwere Hindernisse aus dem Weg schieben. Das Ganze sieht mit seinem Zeichenstil wie Szenen aus einem Bilderbuch aus, untermalt nur von ruhigen Klaviertönen, die wie in „Breath of the Wild“ hier und dort durch die Landschaft wehen.
Malerische Stille
„Warum kommt da jetzt Musik?“
„Wenn wir etwas Bestimmtes geschafft haben und den Weg weitergehen, dann klingen in einem Spiel manchmal Töne. Das ist wie die Musik im Film, wenn zum Beispiel etwas Schönes zu sehen ist.“
Mein neuer Job hat ausnahmsweise nichts mehr mit Videospielen zu tun. Jahrelang habe ich über sie geschrieben, erklärt, wie sie funktionieren, was sie in uns auslösen und wo sie anknüpfen mit dem anderen, das unser Leben ausmacht. Ich habe Fernsehbeiträge zu ihnen gefilmt, Interviews mit denen geführt, die sie gemacht haben. Zuletzt war das schon weniger geworden. Immer mehr harte Themen, immer weniger Software. Jetzt bin ich ganz woanders – im Dschungel. Mit der Tropenwaldstiftung OroVerde vielleicht etwas Grün retten für meine Kinder und die, die nach ihnen kommen.
Warum sitzen wir jetzt also an einem Samstag – während ihr kleiner Bruder seinen Mittagsschlaf macht – auf einem Teppich vor dem Fernseher und spielen „Blanc“?
„Ich glaube, ich habe mich im Gebüsch verirrt.“
„Drück den kleinen Knubbel wieder nach unten, dann kommst du raus.“
„So?“
„Ja genau, du machst das schon super.“
„Jetzt läufst du hinter mir her. Komm Papa.“
Die letzten Monate, unsere Zeit zusammen, kann uns niemand mehr nehmen. Jetzt ist Zeit für etwas Neues. Für sie, mit digitalen Welten zu interagieren. Für mich, mir wieder ganz bewusst mit ihr den Raum zu nehmen, den wir vorher ganz selbstverständlich geteilt haben. Zeit für gemeinsame Momente, Zeit für gemeinsame Abenteuer. Die läuft jetzt gerade ab. In ein paar Minuten ist der Mittagsschlaf vom kleinen Bruder vorbei. Für ihn ist es noch zu früh für diese Art Abenteuer.
„Nur noch ein ganz kleines Bisschen, Papa.“
„Ich wollte doch noch das Spiel mit dem kleinen Reh zu Ende spielen.“
„Ja, nur noch bis wir da bei dem verlassenen Haus über das Dach gehüpft sind.“
„Ich spring hier hoch, ja?“
„Das schaffen wir nur, wenn du da das Fass vor die Mauer schiebst. Drück mal den Schieben-Knopf.“
„Und dann hier rauf?“
„Ja, rauf mit uns.“
Als ich den Fernseher ausmache, kommen die Tränen.
„Aber so ein Spiel ist wie ein Buch. Wir lesen ja auch nicht ‚Die Mumins‘ an einem Abend durch, sondern immer ein kleines Stück.“
Und dann sage ich ihn, den Satz, den ich selbst als Kind schon blöd fand.
„Zuviel spielen ist auch gar nicht so gut. Wir müssen mal eine Pause machen und raus gehen.“
Ich denke kurz an „Diablo IV“, an stundenlanges Farmen und Leveln und Looten und die Frage, wann eigentlich bei mir mal Pause sein sollte. Während mein Satz in mir nachhallt, hat sich das kleine Reh in Die-die-immer-Wuhu-ruft verwandelt und hüpft mit ihrem Bruder durch den Flur. Pause-Game.
Als wir am Morgen aufwachen und nebeneinander im Bett liegen fragt sie mich: „Und um welche Tiere kümmerst du dich heute?“ Ich erzähle von Brüllaffen und den bunten Paradiesvögeln und dem Jaguar. „Aber nächsten Samstag“, denke ich, „wenn dein Bruder schläft, dann kümmern wir beide uns wieder um den Wolf und das kleine Reh. Du und ich.“
Post Scriptum
Es regnet. Einer dieser Spätsommertage in Hamburg, Ende August 2021. Ich habe mich in den Eingang zu einem Club zwei Straßen von der Reeperbahn geflüchtet, zwanzig Meter vor unserer Haustür. Bin schon halb durchnässt, etwas klamm, aber warm ist mir trotzdem. Am Telefon ist Fabu, der kurz zuvor auf Twitter von einem neuen Projekt berichtete. Jetzt erzählt er mir, was das sein soll. WASD als Online-Magazin, thematisch irgendwo zwischen Brandeins und Schöner Wohnen oder so. Und ob ich eine Idee hätte für Texte. Und ob ich eine Idee habe.
Ich erzähle vom Elternsein und von Spielen und von dieser Idee, die ich schon lange mit mir rumtrage. Von Texten über die vielen kleinen Schritte, die ich mit meiner Tochter gehe – und von den Spielen, die ich drumherum gespielt habe. Und was die beiden Dinge vielleicht miteinander zu tun haben könnten. Fabu freut sich. Und ich freu mich, dass Fabu sich freut. Zum Ende unseres Gesprächs hört es auf zu regnen. Er will mit Jagoda und Christian sprechen, mit denen er sich dieses Magazin ausgedacht hat, das irgendwann einmal „Wasted“ sein wird.
Ein paar Wochen später sind wir uns endgültig einig: „Ready Parent One“ soll Teil von Wasted werden. Ich habe es nicht jeden Monat geschafft, aber es war ein Geschenk, euch mit auf unsere Reise nehmen zu können. Danke Jagoda, Fabu und Christian, dass ich diese Texte bei euch schreiben durfte. Danke euch allen, dass ihr sie gelesen habt. Danke für die vielen lieben Kommentare – hier auf der Seite und anderswo – in denen ihr sogar oft eure eigenen Erfahrungen geteilt habt. Ich werde sie vermissen. Vielleicht lesen wir uns ja anderswo nochmal wieder. Christian
Lieber Christian, vielen vielen Dank für Deine tollen Texte, die ich aufgesogen habe und sehr vermissen werde. Sie kommen (bzw. leider ja jetzt „kamen“) für mich genau zur rechten Zeit, weil ich mich aktuell in einer ähnlichen Lebensphase befinde wie Du, auch wenn ich ganz anders damit umgehe. An Deinen Geschichten sehe ich also, wie andere so an die ganze Sache rangehen" und das bereichert mein Leben ungemein. Ich fände es toll, wenn Du diese Reihe irgendwo fortsetzen würdest!
Totoro ist wirklich der beste Film als erster Film. Ruhig, wunderschön und in geniale 20 Minuten-teile geschnitten, dass man ihn wunderbar aufteilen kann. Der erschreckendste Moment für meine Kinder war übrigens immer die Ziege, bei euch auch?
Ich hab deine Serie hier immer gern gelesen, werde ich ebenso vermissen wie Wasted. Aber vielleicht ist es eh gut, wenn du zwischen Arbeit und Kindern nicht noch nen Text klemmen musst. Das schlaucht… In dem Sinne, viel Erfolg beim Regenwald retten und alles Gute für Euch!!
Ist das eine Lebensphase in der man Sonntags vor 9 Uhr wach ist?
Eher vor 8 Uhr!
Ich erhöhe und sage kurz vor 7…relativ zuverlässig
Erst einmal Danke für die Texte, die mir durchweg gefallen haben und mich oft an eigene Phasen in unserem Familienleben zurückdenken ließen.
Diesmal war es dieser kleine Satz:
Lustigerweise hat auch mein Sohn diese Verbindung zu Mario als erstes gemacht. Immer wenn er mein Tattoo sah oder wir ihm seine Mario Kappe aufsetzten, sagte der kleine Kerl „wuuhuuu“
Ich wünsche Dir und den Deinen alles Gute und hoffe man liest doch mal wieder ein Ready Patent One Update in unbestimmter Zukunft.
Bei dieser Reihe finde ich es besonders schade, dass sie endet – vmtl., weil ich selbst grad Nachwuchs habe, bei dem ich schon an erste gemeinsame Spiele zu denken beginne. Wenn du das irgendwoanders fortsetzt, lass es uns bitte unbedingt irgendwie wissen. <3 Alles Liebe deiner Familie!