Das ist die Geschichte des kleinen gallischen Dorfes, das Widerstand gegen die Römer leistet. Nur, dass das kleine gallische Dorf eine hartnäckige Assassins’s-Creed Community und die Römer natürlich Ubisoft sind. Eigentlich haben die Römer schon gewonnen. Eigentlich…
Assassin’s Creed hat sich im Laufe seiner zwölfteiligen Reihe zu einem regelrechten Genre-Leviathan entwickelt: Open-World-Gigant, interaktives Geschichtsmuseum, Light-Rollenspiel, Action-Adventure, Schiff-Simulator und vieles mehr. Die titelgebenden Assassinen und das damit verbundene Stealth-Gameplay rückten dabei immer weiter in den Hintergrund und machten einem actionfokussierten und mainstreamtauglichen Spieldesign Platz.
Allerdings, das muss man auch zugeben: Der Schleich-Aspekt war oft auch nur eine tolle Phantasie und großartiges Trailermaterial gewesen. Im wirklichen Spiel fiel er dann immer deutlich optionaler und inkonsequenter aus. Ein cooles und interessantes Beiwerk. Wirkliche Genre-Profis wie Hitman oder Splinter Cell werden ihn höchstwahrscheinlich belächelt haben.
12 Jahre alt und für eine kleine Community immer noch ein Spiel voller Leidenschaft: Der Stealth-Multiplayer von Assassin’s Creed: Brotherhood.
Mittlerweile, zwischen gigantischen Massenschlachten und ausufernden Skillbäumen, wirkt die Kapuze doch eher wie ein treues Maskottchen, ein Logo, ein Running Gag, der der Reihe einen Rahmen gibt und gleichzeitig den alten Traditionen gedenkt. Eine Tradition, die der neueste Teil Assassin’s Creed Mirage wieder zurückbringen soll. Was viele aber vermutlich nicht wissen:
Auf dem Zenit der Assassinen-Vision – die für viele Fans die Ezio-Trilogie (von 2009 bis 2011) darstellt – ging Entwickler und Publisher Ubisoft einen Schritt weiter und wagte ein interessantes Experiment: Ein kompetitiver Stealth-Multiplayer, ein Wettbewerb, in dem Spieler*innen ihre meuchlerischen Fertigkeiten unter Beweis stellen konnten. Heute, zwölf Jahre später, ist ein Großteil dieser Modi abgeschaltet. Die Community und ihre Meister*innen sind allerdings geblieben, zu denen ich mich ebenfalls zähle. Und gespielt wird immer noch. Mit dem letzten Bisschen, das noch übrig ist. Irgendwie.
Ein Katz- und Katzspiel
Venedig, 1506 nach Christus: Ich bin nicht der einzige tödliche Schatten dort draußen. Mein Charakter überquert den Marktplatz. Ich achte auf jede Person, die sich bewegt und wie sie sich bewegt. Wer verhält sich authentisch, wer verdächtig? Die meisten von ihnen sind nur Zivilist*innen, Statist*innen, NPCs. Aber es sind auch menschliche Spieler*innen darunter. Eine Zielperson, die ich töten muss. Und eine Person, die widerum mir auflauert. Wie gehe ich vor, wie kann ich meinen Auftrag erfüllen, ohne selbst zum Opfer zu werden?
Diese Frage stelle ich mir jede Sekunde in diesen 10 Minuten, die die Partie dauert. Kalter Stress wechselt sich mit heißem Stress ab, abwarten und zuschlagen, loslaufen und untertauchen, klettern und springen, beobachten und mich immer wieder in mein Gegenüber versetzen, das sich in mich versetzt und umgekehrt. Um zu gewinnen, muss ich nicht nur Personen töten, sondern das auch heimlich und clever. Eine nicht fassbare Jury bewertet meine Taten anhand bestimmter Metriken. Und je mehr Punkte ich bekomme und desto höher ich platziert werde, desto mehr Verfolger*innen werden auf mich gehetzt. Pures Adrenalin.
Stealth-Multiplayer wie der von Assassin’s Creed: Brotherhood sind eine aussterbende (oder eigentlich nie wirklich dagewesene) Seltenheit in der Gaminglandschaft. Ubisoft selbst spendierte drei weiteren Teilen einen ähnlichen Modus, bis das Studio in Assassin’s Creed: Unity stattdessen Koop-Missionen einführte und danach das Experiment komplett einstellte. Auch die Konkurrenz versuchte in dieses exotische Gefilde vorzustoßen: Hitman 2: Ghost Mode Deathloop, The Ship: Murder Party, Hood: Outlaws & Legends – letztendlich blieben es Nischentitel oder Balance-Katastrophen, aber auf jeden Fall keine ernstzunehmenden Alternativen. Das nächste Spiel in dieser Richtung wird vermutlich der Spion-Mehrspieler Deceive Inc. sein, dessen genauer Release noch nicht bekannt ist.
Die letzte Gilde
Ich mag Bezeichnungen wie Hardcore-Fan nicht, aber strenggenommen bin ich genau das, was Ubisofts Mehrspieler angeht. Ich spielte den Multiplayer von Assassin’s Creed: Brotherhood seit seinem Release 2010, also insgesamt zwölf Jahre. Er begleitete mich durch mein Studium und meine ersten Jobs. Immer nebenbei, er blieb der Grund, warum die PlayStation 3 nicht zu den anderen Konsolen in den Schrank wanderte. Immer für mich allein, ich kannte niemanden, der ihn auch spielte, und ich war dankbar für jede einzelne Seele, die noch in der Lobby auftauchte. Während der Pandemie passierte dann etwas, mit dem ich nicht mehr gerechnet hätte: Ich fing zunächst an, Spiele auf Twitch zu streamen, um trotz Lockdown-Beschränkungen noch Kontakt zu gaming-affinen Menschen zu haben.
Als ich dann den Multiplayer streamte, wurden plötzlich Mitglieder aus einer mir unbekannten Szene auf mich aufmerksam. Ihre Discord-Community ACP:MR entstand nicht nur aus einer gemeinsamen Leidenschaft heraus, sondern auch aus einer logischen Notwendigkeit: Innerhalb der zwölf Jahre wurde es immer schwerer, Partien zu finden. Wollte man ACB spielen, musste man sich also verabreden und die Rush Hours verfolgen und abwarten. Die waren aufgrund der Zeitverschiebung zwischen den Kontinenten meistens abends, nachts oder früh morgens. So lernte ich viele Spieler*innen wie Dellpit, Try, MilliaRage oder Ted95on kennen. Dellpit (aus Deutschland) verwaltet im Grunde die letzten Überbleibsel der eSports-Sektion dieses Spiels. Auf seiner Seite Assassin’s Network veröffentlicht er seit Jahren die aktuellen Bestenlisten und organisiert gleichzeitig Turniere.
Dellpits Seite Assassin’s Network dokumentiert die letzten Überbleibsel der eSport-Szene von Assassin’s Creed: Brotherhood.
Ursprünglich nahm auch Ubisoft an der Profi-Szene seines selbst erfundenen Sports teil. Im Februar 2013 veranstaltete das Studio sogar höchstpersönlich ein eigenes Turnier zu Assassin’s Creed 3, zu dem allerdings nur französische Teams eingeladen wurden. »Es ist faszinierend, sich diese Aufnahmen anzusehen«, erzählt Dellpit mir im Interview: »Zu diesem Zeitpunkt – und wir sprechen hier von drei Jahren, seitdem der erste Multiplayer online war – wusste noch niemand so richtig, wie gespielt wird. Es war ein komplettes Chaos, das das gesamte taktische Potenzial noch nicht kannte. Das mussten wir alles erst über die Jahre lernen. Jeder folgende Multiplayer (Revelations, Teil 3, Teil 4) hat die Formel auf seine Weise verändert, aber nur ACB hatte die perfekte Balance und zählt deshalb zum beliebtesten Modus.«
Er gibt mir einen Überblick, wie sich die Szene heute verteilt.»Viele Modi werden gar nicht mehr gespielt, weil keine Runden mehr dafür zusammenkommen. Die meisten Spieler zocken den Modus “Gesucht”, eben das klassische Solo-Deathmatch, in dem jeder gegen jeden antritt. Unsere Profi-Liga aber, wenn man so will, trägt ihre Kämpfe nur in Team-Modi aus, wie zum Beispiel “Kopfjagd”, einem Modus, der sich ein wenig mit League of Legends vergleichen lässt. Hierbei treten die Spieler in zwei Teams gegeneinander an. Das erste Team jagt das zweite, das sich wiederum verteidigen muss. Anschließend werden die Rollen getauscht. “Eskorte” setzt als Königsdisziplin noch einen drauf, indem spezielle Spieler als VIPs von ihren Teams beschützt bzw. eliminiert werden müssen. Es kommt hierbei vor allem darauf an, bestimmte Manöver und Fähigkeiten miteinander zu verketten, um das gegnerische Team zu zerschlagen.«
Während sich Dellpit an viele großartige Turniere zurückerinnern kann, zählt er das Eldiara-Turnier vom Juli 2021 zu demjenigen, das ihm wohl am meisten bedeutet hat. Mit dem Turnier sammelten sie Spenden für Eldiara, eine Spielerin aus den eigenen Reihen, die an Krebs erkrankt ist. »In diesen zwölf Jahren wuchs man mit seinen Freunden und Feinden zu einer Familie zusammen. Klar gab es hier und da auch toxische Arschlöcher, aber dieses Gameplay ist bis heute einzigartig. Nicht nur auf dem Controller, sondern auch als Mindgame. Wie ich meine Umgebung wahrnehmen muss, wie ich Verhalten lesen kann, wie ich lerne, auf die kleinste Anomalie in der Ordnung zu reagieren. Das normale Assassin’s Creed hat gar nichts damit zu tun, nicht mal ansatzweise. Manchmal frage ich mich, ob Ubisoft überhaupt jemals realisiert hat, was für eine Profession sich mal unterhalb ihres Gameplays befunden hat«, so Dellpit.
Ein würdevoller Abschied
Im Sommer 2022 herrschte eine regelrechte euphorische und traurige Abschiedsstimmung in der ACB-Szene. Als Ubisoft bekannt gab, dass alle klassischen Multiplayer-Server (außer der von Assassin’s Creed: Black Flag) Anfang September (bzw. nach dem Update Anfang Oktober) abgeschaltet werden, riefen die Fans zu großen Events auf, wodurch das Spiel plötzlich wieder einen kleinen Hype bekam. Viele Fans strömten auf die Server, um das Spiel ein letztes Mal zu spielen, wodurch die Wartezeiten auf volle Matches deutlich verringert wurden. »Das Ende war eine sehr aufregende Zeit. Es ging nicht mehr darum, sich zu verbessern, sondern einfach nur noch den Flow und das allgemeine Spielgefühl zu genießen«, erzählt mir Try, ein Profispieler aus Schweden. »Nein, mit ACB verbinde ich nicht nur Regenbogen und Sonnenschein. Die Technik lässt bis heute zu wünschen übrig und es ermöglicht manchen Spielern viel zu einfach, sehr unsportlich zu spielen. Bis zuletzt habe ich deswegen öffentliche Lobbys gemieden und nur noch Partien mit meinen Leuten veranstaltet. Cool, dass Ubisoft überhaupt Bescheid gegeben und nicht einfach sofort den Stecker gezogen hat. So konnte ich das Spiel ein letztes Mal ehren, das mich so viele coole Menschen kennenlernen und mir so viele coole Momente beschert hat. Ich gebe auch zu, dass ich über die Jahre aus dem Spiel auch irgendwie herausgewachsen bin. Und so hat mir Ubisoft die Chance gegeben, mich ehrenvoll von diesem Spiel und diesem Lebensabschnitt zu verabschieden. Ich bin froh, dass ich ACB miterleben konnte, es wird mir fehlen. Aber alle Legenden müssen irgendwann enden«, erzählt Try.
Auch ich veranstaltete mein eigenes Abschiedsevent, für das ich YouTuber FragNart als Teilnehmer gewinnen konnte, der zu den größten AC-Content-Creator*innen in Deutschland gehört. Im Vorfeld meines Events nutzte ich außerdem den Italienurlaub, um Aufnahmen in Venedig zu machen, das zu meinen Lieblingsmaps in ACB gehört. Den Markusplatz 500 Jahre später zu sehen – diese Wucht musste ich erstmal mit einem überteuerten Kaffee herunterspülen, während ein Pianist wie aufs Stichwort auf seinem Flügel zu spielen anfing. Während meines Events streamte ich dann eine Woche lang jeden Abend, führte diese Interviews mit langjährigen Meister*innen und tat mein Bestmögliches, um meine Zuschauer*innen für dieses Spiel zu begeistern.
Das gibt uns Hoffnung, auch wenn es extrem schwierig werden könnte
Bei FragNart habe ich es auf jeden Fall geschafft. »Ich bin beeindruckt, welche Komplexität sich hinter diesem Multiplayer befindet«, erzählt er mir nach dem Event. »Es fängt den Stealth-Geist der Reihe auf beeindruckende Weise ein. Es war mir eine Ehre, das noch mitzunehmen – auch wenn ich die Abschaltung aus Ubisofts Sicht komplett verstehen kann. Es ist eine ziemliche Nische mit einer hohen Zugangshürde, die ganz konträr zum Hauptspiel steht. Aber wer weiß, vielleicht wird das geheimnisvolle Projekt Invictus, das als Multiplayer angekündigt wurde, ja etwas Ähnliches zurückbringen.« An dem versprochenen Abschiedsvideo, dem Best of meines Events, sitze ich immer noch, aber ich freue mich, wenn es dann erscheint, selbst auch auf meine Weise mit dem Spiel abzuschließen. Auch wenn die Alternative immer noch fehlt.
Und nun?
Offiziell gelten die Server der Multiplayer für abgeschaltet. Dennoch verabreden sich weiterhin Spieler*innen auf Discord für Matches. Wie kommt das? »Unsere Vermutung ist, dass Ubisoft den Server vom Spiel selbst nicht abgeschaltet hat«, erklärt mir Dellpit. »Es sieht eher danach aus, dass Ubisoft nur die Einloggfunktion deaktiviert hat. Das lässt sich auf der PlayStation 3 umgehen, was für die Zukunft aber nicht viel heißen muss. Seit Dezember häufen sich die Meldungen darüber, dass immer wieder Matches abbrechen und manche Spieler gar nicht mehr reinkommen. Das ist jetzt also quasi der Epilog zum Epilog, das Ende bleibt unausweichlich. Meine Freunde und ich sind etwa zu zwölft und werden solange spielen, solange es eben noch geht. Wir prüfen gerade, ob es möglich ist, einen privaten Server zu schreiben, aber wir sind keine Experten darin. Die Fans von Ghost Recon Online, das ebenfalls abgeschaltet worden ist, haben das bereits geschafft. Das gibt uns Hoffnung, auch wenn es extrem schwierig werden könnte.«
Was ich persönlich aus diesen zwölf Jahren mitnehme: Viele Bekanntschaften, viele Erinnerungen. Die einmal klare und deutliche Offenlegung eines Eichmaßes, das mich an Videospielen begeistert: Stress, Mindgames, Schleichen, Verfolgungsjagden. Die Faszination für Multiplayer, die allen Shutdowns und Krisen trotzen. Und ja, irgendwo auch das Gefühl, einem geheimen Zirkel anzugehören. Und gleichzeitig das Gefühl, jemandes Schüler und jemandes Mentor gewesen zu sein. Eine inoffizielle eSport-Karriere gehabt zu haben, mit einem abschließenden Finale, bei dem mir viele Menschen zugesehen und mitgefiebert haben. Und irgendwo auch die tiefe Verbundenheit zum Markusplatz in Venedig. Als ich ihn betrat, kam ich mir entgegen.
Sehr rührende Geschichte zum Multiplayer des Spieles.
Aber dumm gefragt: wäre es nicht einfacher mittels UE5 ein neues Spiel zu schreiben? Dann kann es wenigstens neue Inhalte und Funktionen geben.