Wenn es in Spielen unter die Wasseroberfläche geht, ist Skepsis angezeigt – Unterwasserlevel sind in der Regel reine Schikane. Ganz anders ist das zum Glück in A Memoir Blue, das am, im und unter Wasser spielt und uns dabei in die Geschichte einer Mutter-Tochter-Beziehung voller Höhen und Tiefen eintauchen lässt.
Eine Siegerehrung bei einem Kinder-Schwimmwettbewerb: Die kleine Miriam steht ganz oben auf dem Podium und präsentiert strahlend ihre Goldmedaille, eingerahmt von roten und weißen Luftballons. Ihre stolze Mutter schießt ein Foto nach dem anderen. Doch nach einem Blick auf die Uhr dreht sie sich plötzlich um und verlässt die Veranstaltung. Ihre Tochter bleibt allein zurück, das Strahlen aus ihrem Gesicht verschwunden. Eine traurige Szene – und eine mit unwirklichem Setting: Die Zeremonie findet auf dem Meeresgrund statt und die Zweit- und Drittplatzierten auf dem Siegertreppchen sind keine Kinder, sondern nur Holzaufsteller, Teile der Requisite.
Die Szene zeigt eine Kindheitserinnerung der erwachsenen Miriam, die in A Memoir Blue wortwörtlich in ihr Unterbewusstsein und in die Traumata ihrer Vergangenheit abtaucht. Mit dem kleinen Indie-Adventure, das auch im Game Pass enthalten ist, legt das Studio Cloisters Interactive sein Erstlingswerk vor und hat dabei direkt die Unterstützung des renommierten Publishers Annapurna bekommen, Indie-Entwickler Sam Barlow (Her Story, Tell Me Lies) ist als Produzent mit an Bord. Die Genrebezeichnung Adventure ist allerdings grenzwertig, setzt das Spiel doch statt auf Rätsel und Erkundung auf szenisches Erzählen mit wenigen interaktiven Elementen. Beworben wird es als interaktives Gedicht, wenngleich es seine etwa spielfilmlange Geschichte nur in – zugegeben poetischen – Bildern erzählt. Auf Sprache und Text verzichtet das Spiel komplett.
Leise Töne
In traumartigen Sequenzen beleuchtet A Memoir Blue Kindheit und Jugend der Leistungsschwimmerin Miriam und das enge, aber belastete Verhältnis zu ihrer alleinerziehenden Mutter. Es ist eine berührende, intime Geschichte, die auf allzu krasse Geschehnisse oder überraschende Wendungen verzichtet.
A Memoir Blue ist natürlich weder das einzige noch das erste Spiel, das sich mit der Beziehung zwischen Kind und Mutter beschäftigt: Erst 2020 hat dies etwa das Adventure Tell Me Why getan, mit wesentlich mehr Dramatik und einer deutlich komplexeren Handlung. Doch der Minimalismus in Erzählung und Umfang macht A Memoir Blue nicht zu einem schlechteren Spiel. Gerade weil die Handlung leise Töne anschlägt, fällt es leicht, an die Geschichte von Miriam anzuknüpfen: Ihre Probleme und Konflikte sind nachvollziehbar, ihr Schmerz und ihre Enttäuschung lassen sich mitfühlen – wie auch die ihrer Mutter übrigens, denn obwohl A Memoir Blue aus Miriams Perspektive erzählt, wird auf Schuldzuweisungen oder eine zu einseitige Darstellung verzichtet. Die alltäglichen Herausforderungen, denen sich die alleinerziehende Mutter stellen muss, klingen zumindest an.
Quantitätsmatrix
Spielerisch ist A Memoir Blue eher simpel gestrickt: Interaktive Szenen, in denen es meist nur Objekte zu manipulieren gilt, wechseln sich mit Cutscenes ab, von denen die Handlung getragen wird. Die interaktiven Elemente sind teilweise originell und hübsch gemacht, von echten Rätseln lässt sich aber nicht sprechen, auch wenn ich nicht immer sofort wusste, was zu tun ist. Das lag auch daran, dass die Mechaniken zwar allesamt so wirken, als wären sie wie für den Touchscreen der Switch gemacht, leider aber oft nicht so ansprechen, wie ich es erwartet hätte: Bisweilen muss ein Objekt wiederholt angetippt oder anhaltend gedrückt werden, obwohl es den Anschein hat, dass einfaches Antippen oder Ziehen ausreicht. Es ist reichlich paradox (und eine verpasste Chance), dass sich ein Spiel, das so haptisch orientiert wirkt, mit Controller oder Maus deutlich präziser spielt.
Gefühle für den großen Bildschirm
Visuell besticht A Memoir Blue vor allem durch die Idee, zwei Stile zu kombinieren: Während Miriam als konventionell (und etwas hölzern) 3D-animierter Charakter durch die Wasserwelt läuft und schwimmt, begegnet sie ihren Erinnerungen in Form entzückender, cartoonartiger 2D-Animationen vor handgezeichneten Hintergründen. An diesen Stellen, an denen sie ihrem jüngeren Selbst und ihrer Mutter als stumme Beobachterin gegenübersteht, spielt A Memoir Blue seine volle emotionale Stärke aus: Die glücklichen Mutter-Tochter-Momente, die innigen Umarmungen und die schönen gemeinsamen Erlebnisse sind herzerweichend, die traurigen Momente ergreifend inszeniert.
Das gilt jedenfalls dann, wenn die Plattform stimmt: Ich habe A Memoir Blue auf der Switch Lite gespielt und es ein bisschen bereut. Gerade der Effekt der Cutscenes kommt nämlich leider auf dem kleinen Display kaum zur Geltung, das Spiel ist eher ein Titel für den großen Bildschirm. Auch der atmosphärische Soundtrack sollte mit Kopfhörern oder auf ordentlichen Lautsprechern genossen werden, sonst droht seine Wirkung zu verpuffen.
Wenn sie denn überhaupt da ist, denn leider wechseln sich im Spiel für meinen Geschmack zu häufig und zu abrupt stille Passagen mit Musik ab. Fließendere Übergänge hätten hier nicht geschadet, zumal die Ladezeiten zwischen den einzelnen Kapiteln schon für genügend Unterbrechungen sorgen.
Fazit
A Memoir Blue gelingt es, Handlung und Emotionen ohne Worte zu transportieren und mit Hilfe seiner magischen Wasserwelt zu einem stimmigen Ganzen zu verknüpfen. Trotz einiger Schwächen in der Präsentation und einer sehr schlichten Spielmechanik macht es als kurzes interaktives Erlebnis vieles richtig. Ein poetisches Spiel für einen Abend mit einer rührenden Geschichte und bezaubernden 2D-Animationen.
Danke, das Spiel liegt bereits auf der Box…
Danke. Für den tollen Text und Tipp. Den Titel kannte ich noch nicht. Ist voll mein Fall. 7,98€ im PSN. Deal.