Es geht um die großen, wichtigen, letzten Dinge: Sex, Tod, die Liebe, das Leben, den Sinn des Ganzen. Und um Videospiele. Große, kleine, teure, obskure, die Menschen, die sie machen, kritisieren, spielen und lieben. Kurzum: Es geht ans Eingemachte. „Brief und Sigl“ ist eine Depesche aus dem Ludoversum.
Wien, 24.2.2022
Liebe Leserin, lieber Leser,
in dem Moment, wo ich diese Zeilen schreibe, haben wir beide noch etwas gemeinsam: Weder du noch ich hatten viel Gelegenheit, uns in Elden Ring zu vertiefen. (Außer du hast ein paar Nachtschichten eingelegt.) Der Einfachheit halber gehe ich mal davon aus, dass du dich zumindest ein kleines bisschen für dieses Spiel interessierst, das gerade den größten Hype des bisherigen Spielejahres anheizt; wenn nicht, keine Sorge, ich werde nicht viel zu diesem Fantasy-Rollenspiel sagen, denn wie gesagt: Ich hab es ja noch nicht gespielt.
Statt also über Elden Ring konkret zu reden, möchte ich ein wenig darüber nachdenken, wieso sich ausgerechnet diese, From Software ganz eigene Spielart einer mittelalterlichen Fantasy-Welt für mich, aber auch für viele andere so besonders anfühlt. Selbstverständlich ist das nämlich überhaupt nicht, denn mal ehrlich: Es gibt kaum etwas Ausgelutschteres als just genau jene Fantasy-Generik, die sich hauptsächlich am europäischen Mittelalter als Inspiration bedient. Ja, steinigt mich, aber ich bekomme im Normalfall das große Gähnen, wenn es irgendwo um Könige, Drachen, Ritterburgen und Zauberer geht. Die Genrebezeichnung „Fantasy“ ist Etikettenschwindel; Fantasie ist in 99 Prozent diesbezüglicher Mittelalterkitschorgien garantiert nur in Spuren enthalten.
Die Mittelalter-Fantasy von Dark Souls ist anders. Es gibt eine Anekdote über Hidetaka Miyazaki, nach der er als Schüler ein Buch mit den großen europäischen Epen des Mittelalters in die Finger bekommen habe; auf Englisch, das er damals nur bruchstückhaft beherrschte. Durch dieses nur teilweise Verstehen verbanden sich die Geschichten von Rittern, Schlössern und dunkler Magie zu geheimnisvollen, mystisch bruchstückhaften Märchen, die wohl geheimnisvoller erschienen, als sie es tatsächlich waren. (Jaja, und Berserk. Ich weiß.) Wenn die Geschichte nicht wahr ist, ist sie gut erfunden, denn dieses Unklare, nur halb Verstandene macht tatsächlich auch bis heute den sehr besonderen Reiz der Spiele von From Software aus.
Ich habe gerade behauptet, dass diese Stoffe des Mittelalters vielleicht weniger mysteriös sind, als sie Miyazaki-san durch sein nur schlechtes Englisch erschienen sind, doch eigentlich ist auch das ein Missverständnis. Denn eigentlich ist genau diese Seltsamkeit, diese Fremdheit, die uns in Souls & Co in altbekannter Rüstung und vermeintlich generischem Burgensetting begegnet, den erzählerischen Vorlagen näher als das meiste andere, was uns sonst so vorgesetzt wird. Bevor ich das weiter begründe, ein kleiner Blick in meine akademische Vergangenheit: Ja, ich gestehe es, ich hab das Zeug studiert. Ich bin Altgermanist und Mediävist, das heißt, ich habe mein Studium und danach ein paar berufliche Jahre dezidiert der mittelhochdeutschen epischen Literatur gewidmet, unter anderem in einem Projekt, das echt ehrlich die ganze Breite, sprich: alle, wirklich alle erzählenden Texte der deutschsprachigen Epik bis 1400 nach Motiven sortiert hat. Draus geworden ist so etwa ein halber Meter im Regal der meisten germanistischen Bibliotheken des Planeten. Yes, rly.
Kurz gesagt: Ich denke mal, ich habe einen nicht ganz schlechten Überblick über all das, was zwischen Nibelungenlied und Parzival so ungefähr an Abenteuergeschichten aufgeschrieben wurde, und vielen dieser Werke ist eines gemeinsam: Unser heutiger Blick auf sie und das gesamte Mittelalter, also diese immerhin tausend Jahre, die unter diesem Namen gemeint sind, hat weniger mit ihrer historischen Realität und viel mit ihrer romantisierenden Nachwirkung zu tun, vom 19. Jahrhundert bis heute. Anders gesagt: Wenn uns das alles vertraut vorkommt, dann nur, weil wir nicht genau hinschauen.
In diesen Texten, wenn man sie denn liest, geht es oft darker zur Sache, als ein Jahrhundert an Robin Hood-Verfilmungen und Mittelalterfesten samt Dudelsack-Mittelalter-Goth-Bedröhnung glauben ließe. Es gibt Geschichten von magischen Kesseln, aus denen die Leichen in der Schlacht gefallener Krieger wieder zum untoten Leben erweckt werden. Es gibt magiebegabte Menschenfresserkönige, die ihre ständigen Schmerzen nur lindern können, wenn sie täglich im Blut ihrer Untertanen baden. Es gibt ganze Königreiche voller lebender Toter. Es gibt Völker von riesigen Vogelwesen, die ihre Gegner gnadenlos mit eisenharten langen Schnäbeln durchbohren. Eingeschlossene monströse Völkerschaften, verborgen hinter Gebirgen und Toren aus Eisen, die nur auf ihre Befreiung warten. Bodenlose Brunnen mitten im Wald an finsteren Wegkreuzungen, an denen gewaltige stumme Ritter uns zum Duell zu fordern.
Es gibt mörderische Geheimagenten, die sich die Haut getöteter Feinde überstreifen, Könige, die sich in Tauchkapseln an den Meeresgrund versenken lassen, Völker von Kopffüßern, Hundsköpfige, Riesen. (Dass es eine ganze Menge an POC in diesen Werken gibt, ist dabei noch das am wenigsten Überraschende, zumindest wenn man keine Agenda hat.)
Worauf ich hinauswill: Die düstere Mittelalter-Fantasy von Miyazaki, die auf so viele Klischees von Turnieren, Banketten, lustigen Hofnarren und Tavernen verzichtet, hat in ihrer Atmosphäre des Anderweltlichen, Unheimlichen mehr mit der realen Literatur des Mittelalters zu tun als viel anderes, was uns als solche aufgetischt wird. (Mit deren Literatur, wohlgemerkt, nicht unbedingt mit der historischen Epoche selbst.) Von Gothic über The Witcher bis hin zu Skyrim & Co wird uns das diffuse Fantasy-Mittelalter meistens als historisch-rustikales Trallala vorgeführt, in dem ja eigentlich alle genauso waren wir wir, nur eben mit Wams und Breitschwert. Dieser modernen Anbiederei stellt sich die Vision eines undurchdringlichen, esoterisch-dunklen Mittelalters entgegen, wie sie in den Souls-Spielen gezeigt wird; das beginnt bei der sperrigen Sprache, mit all den gestelzten Thous und Thys, und geht weiter bis zum Pathos und der Erhabenheit ihrer Figuren.
Vermutlich ist es das Erbe all der Dungeons&Dragons-Runden, in denen sich das Missverständnis eingeschlichen hat, hinter all den Panzerrüstungen, Schilden und Visieren wären auch nur Dudes und Dudettes wie wir; der Irrglaube, dass das Leben in einer vormodernen Gesellschaft nur andere Tapeten und Kostüme bedeutet, und nicht ein völlig anderes Bild von einer Welt, die immer noch voller Wunder, Schrecken und Erlösung war.
Dass ausgerechnet ein Japaner mir und vielleicht auch dir diesen Blick auf unsere Kultur, auf unseren Erzählungsschatz wieder so herrlich fremd, neu und aufregend gemacht hat, ist einmal ein positiver Aspekt einer Kultur der Pop-Globalisierung. Und jetzt freue ich mich schon darauf, mir das in seinem neuen Spiel ansehen zu dürfen.
Dein
PS: Wenn du Lust bekommen hast, einen fast ebenso neuen Blick auf ein altbekanntes Thema des Mittelalters zu werfen, aber Elden Ring dir zu viel in Arbeit ausartet, schau dir einmal Pendragon an. Den ollen König Artus hast du so nämlich auch noch nicht gesehen.
Schade, dass der Text in den Kriegswirren dieser Tage untergeht. Ich hab ihn mir für heute morgen aufgehoben und bin froh, ihn gelesen zu haben. Wirklich eine sehr schöne Perspektive auf Dark Souls und eine tolle Erklärung dafür, wieso sich das alles immer so sehr vertraut und zugleich fremdartig anfühlt!
Vielen Dank!
Elden Ring ist mein erstes Game von FromSoftware und ich spiele es langsam und mit Genuss. Beim Lesen der Hintergrundinfos aus dem Artikel zum Thema Mittelalter-Fantasy wird mir klar, warum ich diese Spiele mag, sind sie doch wesentlich näher an der ‚Realität‘, als die polished Questreihen abarbeitenden Versionen, die dann fast schon wieder in Arbeit ausarten können - wobei für mich ein Spiel immer noch ein Spiel sein sollte und kein ‚Arbeistress‘.
Kritisch sehe ich auch die kurz nach Release veröffentlichten Walkthroughs und Youtube Videos ‚Wie kille ich möglichst schnell und effektiv den Boss‘. Dies mindert gerade das persönliche Spielerlebnis. Wie im Real Life werden die zahlreichen Lebenshilfe Ratgeber, Coaching Tipps uvm erst dann selbstwertrelevant, wenn sie emtional individuell ausgewählt, sortiert und erprobt werden.
Nach 20 Stunden Elden Ring Erfahrung gefällt mir der Ansatz des Unklaren, Fragend Suchenden und Dunklen gut. Im Gegensatz zu anderen Games vergleichbarer Genres ist es sogar möglich einen älteren Charakter zu kreieren, durchs Leben geprägt und auch mit Falten, mit dem ich mich dann identifizieren kann plus die ‚Überraschungen‘ im Game, dass eine Kiste auch mal keinen guten, sondern einen verwirrenden oder bösen Inhalt preisgibt - like in the real life - HF playing and experiencing ‚real‘ dark fantasy
Ich hab noch kein Souls gespielt, mir trotzdem spontan Elden Ring zulegt. Hab mich aber noch nicht rangetraut, haha.
Nur Mut, kannst sogar einen älteren Charakter mit Falten, Halbglatze usw. designen, also so dem RL age angepasst Ich spiele langsam - auch hier dem Alter angemessen , es macht Spaß und Lust auf mehr.
Alleine durch die Auflistung der Themen mittelalterlicher Geschichten hab ich jetzt doch ein bisschen Bock bekommen mein erstes From Software Spiel zu spielen. Dabei hab ich Mediävistik im Germanistikstudium so gut es ging vermieden.
War auch meine Lieblingsstelle aus dem Text.