Weird West ist das Debüt-Spiel der WolfEye Studios. Das könnte einigermaßen egal sein, würden hier nicht Dishonored-Kreativköpfe an ihrer eigenen Vision des Wilden Westens werkeln. Ob diese Indie-Immersive-Sim der neue Sherrifstern am Westernhimmel wird? Schaunmermal, wie der Texaner sagt.
Ich bin gerade ein Schweinemann. Halb Mann, halb Schwein. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, habe ich gerade erfahren, dass meine Verwandlung in diese Monstrosität wohl nicht ganz ungerechfertigt war. Denn bevor ich in ein „Snout“ verwandelt wurde, war ich wohl mehr Schwein als Mann. Sagt jedenfalls die Angestellte des Bordells, die mich an die Magierin verraten hat. Wobei Zwangsprostituierte es hier wohl deutlich eher trifft, denn meine Gewalt als Inhaber des Etablissements im vorhergehenden Leben soll der Grund für diese fleischliche Strafe gewesen sein. Genaueres weiß ich nicht, denn mein Gedächtnis wurde bei der Transition in den Schweinekopf wohl irgendwie gelöscht. Oink!
Wie auch immer, die magisch begabte Dame hat meine Seele dann in einen Baum gebannt – und mich in eine Schimäre aus Mensch und Schwein verwandelt. Okay – das heißt dann im Umkehrschluss aber auch, dass ich die Seelen aller anderen Schweinemenschen wohl nicht befreien sollte, wenn ich dem des ewigen Lebens überdrüssigen Seelenbaum aktive Sterbehilfe leiste, oder? Immerhin sollen die anderen Schweinebacken alles ähnlich miese Typen sein, die dann zu Hunderten durch den Westen marodieren würden.
Der Westen. In Weird.
Das findet ihr jetzt alles ein wenig, sagen wir mal – merkwürdig? Keine Sorge: Das ist es auch während des Spielens. Und mich beschleicht die Vermutung, das könnte bei einem Spiel mit dem Titel Weird West sogar Absicht sein. Auf jeden Fall ist dieses Abenteuer zumindest eines: Extrem ungewöhnlich. Und das nicht zuletzt wegen seiner Perspektive. Spielerisch fühlt sich Weird West nämlich wie eine Mischung aus Twinstick-Shooter und Action-Rollenspiel an. So wie in den glorreichen Baldur‘s Gate Dark Alliance-Zeiten mit aktiver Steuerung. Und ja: Ich schieße aus der Vogelperspektive.
Zusammen mit dem markanten Artdesign im Visual-Novel-Stil entsteht ein atmosphärischer Wilder Westen, in dem klassische Western-Motive mit Horror und Fantasy verschmelzen. Geister, Dämonen, Werwölfe und Bestien? Gibt es hier genauso wie die staubigen Grenzstädtchen und Outlaw-Gangs wie die Stillwaters, welche friedfertige Einwohner drangsalieren. Nur, dass sie eben kein Gold, sondern das Fleisch der Bewohner wollen. Für die unter den Menschen lebenden Sirens, die sich davon ernähren.
Die Entwickler*innen der WolfEye Studios vermarkten ihr Horror-Action-Rollenspiel als „Immersive Sim“ – und rücken es damit in die Nähe von Titeln wie Dishonored oder Prey. Was wieder kein Wunder ist, denn mit Raphaël Colantonio and Julien Roby sind gleich zwei ehemalige Arkane-Spitzenleute am neuen Projekt beteiligt. Und wem das als großer Name immer noch nicht reicht – auch Chris Avellone war als Writing-Coach an dem Projekt beteiligt. Für alle NACH dem Jahr 2000 geborenen Leser*innen: Avellone war u.a. Hauptverantwortlicher von Planescape Torment. Das ist ein Rollenspiel, in dem Lesen die hauptsächliche und zentrale Spielmechanik ist. Habe ich aus sehr sicherer Entfernung zumindest so verstanden.
Guter Lesestoff
Lesen ist übrigens auch bei Weird West ein wichtiger Bestandteil, denn die Dialoge sind nicht vertont. Das ist für mich zwar mehr als okay bei einem so kleinen Studio, gemeinsam mit der sehr praktikablen Vogelperspektive bleibt dennoch nicht so richtig viel „immersive“ von der Sim übrig. Denn nah dran ist man eben nie, wenn neben den oftmals eher gesichtslos gezeichneten Figuren Textfelder aufploppen. Ja, ich weiß. Das hat Disco Elysium zum Release genauso gemacht und ist dafür vermutlich zu Recht gefeiert worden. Aber es hat wohl seinen Grund, warum ich das dann auch nicht gespielt habe.
Tatsächlich ist dieser Bruch aus immersivem Anspruch und staubiger Realität aber eines von nur sehr wenigen Problemen im Weirden Westen. Die sogar für einen Story-Verächter wie mich interessanten Nebengeschichtchen und die auf fünf Erzählstränge aufgeteilte Hauptstory inklusive radikaler Charakterwechsel sind nämlich super. Egal ob die Geschichte vom entführten Ehemann, für den die ehemalige Kopfgeldjägerin Jane Bell den Colt doch noch ein letztes Mal umhängt. Oder die kleine Nebenquest, in der man zwei Wachen der Stillwaters per Liebesbriefvermittlung – der eine schüchtern, der andere Analphabet – zu einem Happy End verhilft. Es ist eindeutig, dass sich die Autoren beim Workshop mit Avellone Notizen gemacht haben. Die Motive, Geschichten und Texte sind über weite Strecken richtig gut.
Der Horror-Western-Shooter
Und auch spielerisch ist Weird West nicht mehr als es sein will. Und das meine ich in jeder Sekunde positiv. Denn Weird West will erstaunlicherweise ganz schön viel sein. Es gibt wirklich wahnsinnig viele Systeme. Elemente interagieren miteinander, Feuer entzündet Öl, Elektrizität setzt Wasser unter Strom und die ganze Welt steht voll mit Fässern, die sich kombiniert sehr gut dazu eignen Feinde aus den Levels und Dungeons zu schießen.
Quantitätsmatrix
Und auch wenn man sich fragt WARUM das Gefahrgut wirklich überall herumsteht: Wenn man als Eröffnung ein Ölfass umtritt und den heranstürmenden Gunslinger in der Max-Payne-Gedenkbullettime zunächst per Schuss auf eine Lampe anzündet und ihn als abschließendes Crescendo dann mit „Fan the Hammer“ durchlöchert ist diese Frage schnell irrelevant. In den Gefechten trifft Hotline Miami auf Call of Juarez Gunslinger und Desperados. Klingt erstmal merkwürdig (HA!), spielt sich aber hervorragend.
Weird West ist insgesamt ein sehr unterhaltsamer Top-Down-Shooter, der mir zwischen Stealth und rauchenden Colts, mit Highground-Sniping und brachialem Shotgun-ins-Gesicht-Geballer richtig viele Möglichkeiten gibt. Okay, ja, irgendwie ist auch hier die Perspektive manchmal etwas ungewohnt, zum Teil der Übersicht auch abträglich. Gerade auf langen Distanzen. Trotzdem machen die Shootouts einfach richtig Spaß – nicht zuletzt, weil man eine Posse mit bis zu zwei weiteren Mitgliedern anführt, die sich im Kampf ebenfalls nicht zurückhalten.
Rollenspiel? Auch dabei!
Aber um kurz nochmal auf die Spielsysteme zurückzukommen: Es gibt Perks und aktive Fähigkeiten, die beide über Items freigeschaltet und verbessert werden. Geballert wird mit vier Wildwest-Waffentypen von Revolver bis Repetiergewehr, dazu gibt es ein überschaubares Upgradesystem inklusive simplem Crafting. Und wirklich überall kann gelootet und geholfen werden. In seinen besten Momenten fühlt sich Weird West dabei wie ein Fallout oder Wasteland als Actionspiel an. Man trifft auf skurrile Charaktere an absurden Schauplätzen. Und die Wüsten und Steppen des Westens sind dank Zombies, Geistern und Mutanten auch auf eine sehr ähnliche Art gefährlich wie das atomar verstrahlte Ödland bei Fallout.
Ja, Stealth geht auch. Ziemlich gut sogar.
Gereist wird hier übrigens über eine klassische Weltkarte. Zufallsencounter spielen sich auf kleineren Karten ab, auf denen sich neben Feinden auch oft Schätze verbergen. Die allgegenwärtigen Wildwest-Minen sind im Grunde Dungeons – und natürlich gibt es Forts, Städte, Haciendas und sonstige Wildwest-Siedlungen, die je nach Story-Verlauf die Seiten und Einwohner wechseln. Gerade in den urbaneren Gebieten erinnert Weird West sehr an Desperados 3. Nicht zuletzt, weil hier viel Action auch „viel tot“ bedeutet. Ja, Stealth geht auch. Ziemlich gut sogar.
Wo es neutrale Städte gibt, da ist natürlich auch ein Moralsystem nicht weit. Ihr wisst schon – Verbrecher umlegen und Leuten helfen: Gut. Läden überfallen, Pferde stehlen, alle umlegen: Böse! Cool ist dabei, dass ich wirklich jede Figur über den Jordan befördern kann. Laut Ladebildschirm-Tipps auch wichtige Story-NPCs und die Bevölkerung ganzer Dörfer. Nicht, dass ich das ausprobiert hätte. Aber die Bestrafung beim Pferdeklauen ist ziemlich konsequent und mit längeren Knast-Sitzungen oder wilden Schießereien auch angemessen bestrafend.
Allerdings zählt ein Pferd auch dann als gestohlen, wenn man es nur aus Versehen falsch anklickt und dann ganz offensichtlich ohne wieherndes Diebesgut die Siedlung verlässt. Etwas ärgerlich, weil nicht durchschaubar. Aber eine Woche im Knast und zwei, drei erfolgreiche Kopfgeldjagden später hat der Sheriff das Ärgernis dann auch wieder vergessen. Hoffentlich.
Indigene Völker. Aber richtig.
Richtig gut ist außerdem, dass mit der Lost Fire Nation auch ein indigenes Volk vertreten ist, mit dessen Beschützer „Across Rivers“ ich einen Teil der Geschichte bestreite. Für diesen Zweck holte sich das Studio mit Elizabeth LaPensée eine Anishinaabe ins Autor*innenteam. Das sorgt für eine realistischere Darstellung der indigenen Völker des weirden Westens – und bietet tiefen Einblick in die spirituelle Welt einer indigenen Nation. Achso, wo wir gerade beim Überwinden längst überholter Klischees sind: natürlich war der Wilde Westen niemals so weiß, wie uns Hollywood lange Zeit glauben lassen wollte. Rund 25% der realen Cowboys waren schwarz.
Aber fürs Rollenspiel-Gefühl ist diese Bestrafung durch Fortschritt … erstaunlich.
Auf der Reise schließe ich außerdem Freundschaften fürs Leben: Befreie ich zum Beispiel Gefangene der Stillwaters, kommen die im passenden Augenblick zurück, um mir im Kampf zu assistieren. Eine unheimlich motivierende Mechanik!
Erstaunlich ist aber die Fortschrittsmechanik per Charakterwechsel. Und ich sage „erstaunlich“, weil sie sich wie ein verkehrt herum angeordnetes Rougelite anfühlt. Denn sobald ich am Ende einer Story angelangt bin, verliere ich meinen Fortschritt. Außer den freigeschalteten Perks und den in der Satteltasche des Pferdes und im Safe der Bank abgelegten Items, fange ich die neue Story bei Null an. Klar – andere Charakter und so. Aber fürs Rollenspiel-Gefühl ist diese Bestrafung durch Fortschritt … erstaunlich.
Immerhin verschwinden so die mühsam mit Edelmetall beim Schmied aufgewerteten Waffen und vor allem auch alle Fähigkeiten. Noch viel merkwürdiger ist das, weil wir die gleiche Seele bleiben, die durch unterschiedliche Körper wandert. Oder so ähnlich. Wenn ich die Story einigermaßen richtig verstanden habe. Egal: Cool ist, dass wir nicht nur die Auswirkungen unserer vorherigen Taten ausführlich besichtigen können – etwa durch Kopfgeldposter oder ausgeschaltete Figuren. Wir treffen auch unsere alten Ichs wieder, die wir dann als besonders schlagkräftige Mitglieder in die Posse rekrutieren können.
Fazit
Weird West ist ein gelungenes, kleines, großes Spiel: Spannende Action, eine interessante Geschichte – und das in einer herrlich interaktiven und bizarren offenen Welt? So lob ich mir den Weirden Westen. Ob es am Ende so viel Eindruck hinterlassen wird wie seine Vorbilder Wasteland, Dishonored und Hotline Miami? Eher unwahrscheinlich. Aber nicht jedes gute Indie-Spiel muss auch ein großer Meilenstein sein, oder?
Super „Premium Weekend Review“. Und natürlich schön, wieder was von @eUndead hier zu lesen. Ich hatte schon befürchtet, wir hätten Matthias und Eike für wasted verloren.
Diese Kombination aus launigen Kommentaren (Habe ich aus sehr sicherer Entfernung zumindest so verstanden.) und fachlich gutem Review gefällt mir jedenfalls sehr gut. Analytische Subjektivität, anyone?. Gelernt ist gelernt…
Genau so sollte der wasted Artikel Stil meiner Meinung nach sein Sehr schön.
Auch Referenz Stakkatos wie
Max-Payne-Gedenkbullettime … trifft Hotline Miami auf Call of Juarez Gunslinger und Desperados. Klingt erstmal merkwürdig (HA!), spielt sich aber hervorragend.
sind einfach super. Liest sich schön, hilft gleichzeitig dass Spiel besser einzuordnen, und liefert sogar noch die entscheidende Info ob es sich gut oder schlecht spielt. Review goodness condensed. (Aber bei der Maus heißt es in meiner Erinnerung „Klingt erstmal komisch, ist aber so“)
Bonuspunkte gibt’s von mir natürlich für vernünftiges Geschichtswissen sowohl im Spiel als auch im Review (Nimm das, Anno!)
So, jetzt ist der Download durch und ich muss Schluss machen…
Ich denke auch, wenn die 4P Reviews bleiben, ist alles in Butter! LG
Uh, ist ja im Game Pass.
Genau wie Memoir Blue. Passt!