Brief und Sigl: #RIPTwitterGaming

Alle zwei Wochen setzt sich Rainer an seine Tastatur und schreibt dir einen Brief. Ja, dir.

Es geht um die großen, wichtigen, letzten Dinge: Sex, Tod, die Liebe, das Leben, den Sinn des Ganzen. Und um Videospiele. Große, kleine, teure, obskure, die Menschen, die sie machen, kritisieren, spielen und lieben. Kurzum: Es geht ans Eingemachte. „Brief und Sigl“ ist eine Depesche aus dem Ludoversum.

Wien, 26.11.2022 

Liebe Leserin, lieber Leser,

einmal Tony Stark auf Wish bestellt, und dann das: Twitter großmäulig aus Versehen gekauft, tausende Menschen gefeuert, Mikromanagement aus der Narzisstenhölle, ein Führungsstil wie Dschingis Khans übellauniger Schwippschwager an einem miesen Tag und eine Rückkehr all jener rechts- und sonstwie extremen Zeitgenossen, die sich ihren Twitterbann durch Belästigungen, Volksverhetzungen, Lügen und sonst alles Mögliche bis knapp unterhalb des Aufrufs zu gewaltsamen Staatsstreichen redlich verdient gehabt hätten.  

Rainer Sigl

Schreibt und spricht seit 2005 (nicht nur) über Videospiele. Lebt in Wien.

Das alles wäre zumindest für mich endlich der glorreiche Moment und Anlass, nach einem Jahrzehnt von der längst hassgeliebten Lebenszeitvernichtungsmaschine Twitter ein für allemal Abschied zu nehmen, wenn, ja wenn nicht große Teile meiner beruflichen journalistischen Interessen auf geradezu tragische Weise mit dieser Plattform verbunden wären. Twitter war ein Zeitvertreib und digitaler Lebensraum für viele Menschen; für mich – und viele andere, die auf die eine oder andere Art und Weise ihren Lebensunterhalt mit Videospielen verdienen – war es auch ein Arbeitsplatz. Und nicht der schlechteste.

Ja, es stimmt: Twitter hat es tatsächlich einige Jahre lang geschafft, das alte, verknöcherte Verhältnis zwischen millionenschweren Publishern samt eigenen PR-Schwadronen, kleinen Ein-Mann-Studios, international tätigen Fachredaktionen und freien JournalistInnen variabler Professionalität auf eine neue Basis zu hieven. Nicht, dass es irrelevant gewesen wäre, wie groß ein Titel, wie tief die Taschen der Macher waren, aber Fakt war: Ein Tweet, den ein enthusiastischer Modder um drei Uhr früh aus seinem Schlafzimmer in Kuala Lumpur geschrieben hat, stand gleichberechtigt und mit derselben Wichtigkeit in meiner Timeline wie Ubisofts Ankündigung der Super-Special-Meuchelmörder-Edition von Assassin’s Creed 27. 

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Oder eher: eben nicht, denn PR-Accounts von großen Firmen bin ich nicht gefolgt. Wozu auch? Viel interessanter war es, die Geschichten und Personen selbst direkt zu suchen, die Twitter-Konversationen zwischen GamedesignerInnen, Branchenpersönlichkeiten und ihren Fans und/oder KritikerInnen sozusagen live stattfinden zu sehen. Das Drama, für das Twitter berühmt-berüchtigt ist, war immer auch ein Spiegel einer Branche, die voller enthusiastischer, idealistischer und vor allem kreativer und visionärer Menschen war und ist. Menschen, nicht PR-Lautsprecher. Nachdem die digitale Transformation Anfang des Jahrtausends die Gatekeeperfunktion traditioneller VideospieljournalistInnen obsolet gemacht hat, hat Twitter zehn Jahre später dasselbe für die andere Seite der Branche getan: Hier traf man die Menschen, die all die Jahre zuvor hinter ihren PR-Personen versteckt gewesen waren.

Ich kann nicht mehr aufzählen, wie oft ich via Twitter direkt mit EntwicklerInnen, AutorInnen, Artists und Kreativen kurz und schnörkellos in Kontakt getreten bin. Twitter ist – war – eine demokratisierende Vernetzungsmaschine, die das Feld gerade für kleinere Games-EntwicklerInnen, aber auch AutorInnen wie mich eingeebnet hat; von der Möglichkeit, nicht nur zu recherchieren, sondern auch die eigenen Texte zu bewerben und anzukündigen, mal ganz abgesehen.

Trotzdem kann dieser Blick zurück nicht nur von rührseliger Nostalgie getragen sein. Ja, Twitter war exakt die Waffe, mit der GamerGate vor acht Jahren die ersten Scharmützel eines Kulturkriegs ausgefochten hat, der bis heute andauert und sich längst auf alle möglichen anderen Bereiche erstreckt. Die einfache Möglichkeit, Accounts zu fälschen, Relevanz zu faken, Hashtag-Kampagnen zu lancieren, die das eigene Tun relativieren oder verteidigen, steht der wichtigen gesellschaftlichen Whistleblower- und Kampagnenfunktion von Hashtag-Phänomenen wie #aufschrei, #metoo, #IchBinHanna, #BlackLivesMatter, #arabspring oder #IranRevolution gegenüber.  

Dass Twitter in den letzten ein, zwei Jahren, seit Trumps gerade so eben gescheiterten Putsch vom 6. Januar 2021, verstärkt und erfolgreich versucht hat, gerade den rechten, von radikal-revolutionären Fascho-Siff-Ecken wie /pol und 8chan instrumentalisierten Onlinekulturkriegern aus Kekistan einen Riegel vorzuschieben, war nur ein Heftpflaster auf einer schwärenden gesamtgesellschaftlichen Wunde, aber hey: YouTube spiralisiert für Engagement sein Publikum in immer tiefere rechtsextreme Verschwörungsecken und Facebook verkauft via Cambridge Analytica dein Leben an antidemokratische Aktivistenmilliardäre.  Dagegen war Twitter wohl in den Augen Musks geradezu eine basisdemokratische Antifa-Kommune – immerhin hatte man dort zumindest die wirrsten und aggressivsten rechten Schreihälse nach mehrfacher Verwarnung  irgendwann mal rausgeschmissen. 

Diese Typen werden jetzt zurückkommen, und ihr selbstbesoffenes Triumphgeschrei wird vermutlich, hoffentlich, auch die letzten Werbe-Etats verscheuchen. Kein Wunder, dass sich ausgesuchte GamerGate-Fressen wie Sargon of Akkad, bürgerlich Carl Benjamin, zwischenzeitig bei der Brexit-Partei UKIP am Werk, schon jetzt euphorisch zu Füßen des Edgelords in Chief kringeln.

Ich mach das, glaub ich, bald nicht mehr mit. Ich werde mit Bedauern, aber auch ein wenig Erleichterung dieser Plattform den Rücken kehren und versuchen, meine Arbeit anderswo zu erledigen; werde die Auswahl meiner Subreddits feintunen, auf Discords nach Kontakten suchen, vielleicht wieder mehr Blogs lesen, noch mehr Newsletter abonnieren, in Foren schauen und natürlich auch auf Mastodon versuchen, eine neue Heimat zu finden.

Es tut mir leid für all die kleinen Entwicklerstudios, all die Minipublisher, alle von der ohnehin ständig dröhnenden Indiepocalypse betroffenen SpielemacherInnen, die eine großartige Möglichkeit, auf sich aufmerksam zu machen und erreichbar zu sein, ans Ego eines überschätzten Männchens verlieren, das diese globale Bühne für seine unfreiwillige öffentliche Selbstdemontage in tausend Einzelteile sprengt. Tschüss, Twitter; es war nicht immer schön mit dir, aber sowas hättest du auch nicht verdient gehabt. „This wasn’t just a hell site, it was a hell home“, wie auf Twitter selbst, wo sonst, wehmütig festgestellt wurde

Ich verspreche: Ich werde euch auch woanders finden, ihr EinzelkämpferInnen und Visionäre, ob ihr in euren Schlafzimmern, in Lofts oder in Kellerstudios sitzt. Oder ihr findet mich. Zum Beispiel hier. 

Und vielleicht, vielleicht kommt einmal ja doch sogar was Besseres nach. Ich will es gern glauben.

PS:  Nach so viel Apokalypse ist noch Zeit für das, was danach kommt: Werft einen Blick auf Zero Sievert, das verbindet Stalker, Escape from Tarkov und die schönste C64-Pixelnostalgie der Welt mit Gnadenlosigkeit und Zufallsgenerierung. You heard it here first! Fick dich, Twitter.

1 Kommentar


Kommentare

  1. Avatar for VfBFan VfBFan says:

    So lange Rainers Newsletter hier zu lesen ist, brauche ich nix anderes. :wink:
    Zero Sievert sieht cool aus. Aber ich warte da mal schön auf den richtigen Release.

    Unplug Social Media GIF by Debbie Ridpath Ohi

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