Horizon Forbidden West ist schön. Verdammt schön. Doch manchmal kann einem Schönheit auch im Weg stehen. Warum Guerrilla Games sich mit dem neuen PlayStation-Flaggschiff selbst wohltexturierte Steine in den Weg gelegt hat und Forbidden West dennoch ein herausragender Nachfolger ist, erfährst du bei uns.

“Die Wunde heilt nie.”, murmelt Kriegsveteran Kotallo und tippt sich mit der rechten Hand auf das restliche Stück Arm, das ihm geblieben ist. Er lächelt. Aloy nickt. Ein leichtes Kräuseln zieht sich um ihre Mundwinkel, eine Sorgenfalte zeichnet sich auf ihrer Stirn ab, sie legt den Kopf schief und die geballte Power eines top notch Motion Capturings zeigt mit jeder kleinsten Gesichtszuckung: Ja, die Wunde heilt nie. Aloy hat verstanden. Mimik genügt für diese Metapher. Die sitzt, auch ohne Worte.

Aloy wird von der niederländischen Schauspielerin Hannah Hoekstra verkörpert. (Bild: Petri Levälahti)

Willkommen zu Megalomanie-Tours

Schade nur, dass das allgemeine erzählerische Niveau nicht ansatzweise Schritt halten kann mit der Brillanz solcher beeindruckenden Cutscenes. Doch halt, kein Grund, Horizon Forbidden West gleich in einen Topf zu werfen mit Niveau-Limbo-Kandidaten wie, sagen wir mal, Elex II

Denn einer der ärgerlichsten Kategorienfehler im Bereich der Spielkritik ist das Gleichsetzen von Rollenspielen mit Open-World-Rollenspielen. Zwei Genres, deren Beliebtheit unter Spieler*innen irgendwo zwischen Pizza und Pommes rangiert und doch würde es niemand wagen, beides zu vergleichen oder gar zu kombinieren. Nur maximal Unzurechnungsfähige kämen auf die Idee, der Pizza vorzuwerfen, sie sei zu wenig fritiert oder den Pommes, es mangele ihnen an Mozarella! Gut, ich leugne nicht die Existenz von Chili-Käse-Pommes, aber das ist ein Thema für einen anderen Text.

Ein Open-World-Spiel wie Horizon ist der “Hop-On Hop-Off”-Touribus unter den Gamegenres

Horizon Forbidden West Action-Rollenspiel

Plattformen
PS4, PS5
Release
18.02.2022
Entwickler
Guerrilla Games
Publisher
Sony Computer Entertainment
USK
ab 12
Links
playstation.com

Und dennoch wird das Argument der von Nebenhandlungssträngen unterbrochenen Hauptquest und von mangelnder Qualität häufiger aufs Spielekritiktableau gebracht als ein Cookie-Consent auf Wasted.de. Ludonarrative Dissonanz? Who cares verdammt nochmal, wir spielen hier ein Open World Rollenspiel. Wer käme denn schon auf die Idee, einem Rollenspielgiganten wie Dragon Age vorzuwerfen, seine Welt sei nicht verzweigt genug und die einzelnen Abschnitte zu linear? Entweder: Oder. Zugegeben, leider hat sich Horizon in beidem versucht, indem es die ein oder andere egale Dialogoption zu viel anbietet und ist dadurch auf halbem Weg zum Rollenspiel verreckt. Wäre nicht nötig gewesen. 

Aber ein Open-World-Rollenspiel-Action-Adventure wie Horizon Forbidden West ist ganz eindeutig der “Hop-On Hop-Off”-Touribus unter den Gamegenres! Einsteigen und Aussteigen wann immer du möchtest, ist ausdrünglich gewünscht. Ja, es gibt eine festgelegte Route, wie bei jedem ordentlichen Touribus. Eine Tour, die sich an der Hauptquest orientiert und an ihr entlangfährt. Aber es wäre eine Verschwendung von wertvoller Urlaubszeit und ein Frevel an irgendwelcher antiker Architekturkunst, während dieser Fahrt sitzenzubleiben. Raus mit dir! Nach Süden schauen, nach Westen schauen, eine Ruine erkunden, in eine Höhle abtauchen oder mal eben eine Runde “Streit” in der nächsten Dorfkneipe spielen. Genug gesehen? Dann wieder rein in den Bus und ein Stückchen weitergetragen werden. Und jetzt, um es in aller Deutlichkeit zu sagen, mein lieber Herr Gesangsverein, die Reise durch das postapokalyptische Kalifornien in Horizon Forbidden West ist die mit Abstand schönste Fahrt, die es je in einem Videospiel zu sehen gab!

Hinterm Horizont geht’s weiter.

Zu schön, um wahr zu sein. 

Was ein Smartphone oder eine Nikon D850 für den gemeinen Touristen, ist den Videospielern der Fotomodus. Noch nie sah ich mich ernsthaft genötigt, so häufig inne zu halten und Aloy in Szene zu setzen, an der Brennweite dilettantisch herumzufummeln und den perfekten Sonnenuntergang oder das bedrohlichste Maschinenfoto zu knipsen. Dieses Spiel ist nahezu aus jedem Winkel betrachtet ein optisches High-End-Produkt. Wasser in Videospielen wird nie mehr so sein wie vorher. Es ist türkis, blau, schillernd, voller Leben und Gewächs. Bei Horizon ist das Wasser ein bisschen nasser, die Wüste ein bisschen trockener, und der Dschungel einen Hauch feuchter. 

Ich möchte hier bleiben, nachts im Wüstensand liegend auf die Milchstraße blicken

Wenn dann meine Busfahrt durch Kalifornien mich zu den Ruinen von Las Vegas geleitet, mir einen der sympathischsten Charaktere des ganzen Spiels vor die Füße wirft und mich mit Farben, Licht und Feuerwerk blendet, exakt so, wie es das echte Las Vegas auch tun würde, dann möchte ich nicht mehr weiterfahren. Stop aus. Die Karawane steht still. Ich möchte hier bleiben, nachts im Wüstensand liegend, auf die Milchstraße blicken und mich von bunten Lichtern des Caesars Palace blenden lassen. Irgendwo krabbelt ein Skorpion durch die Düne und der DualSense Controller in meinen Händen macht, was er soll: Haptisches Feedback geben. Ich spüre den Wind in meiner Hand, ich fühle meine Schritte und erlebe Momente, wie ich sie noch nie meiner Computerspielhistorie erleben durfte. 

Postapokalypse now.

Ludonarrative Dissonanz my ass. 

Was ist dann das Problem der Narration, ist es wirklich entscheidend, dass die Hauptquest nicht an den Twist aus Horizon Zero Dawn heranreichen kann? Nein, sie reicht nicht heran und es fehlt aber ein viel entscheidender Faktor: Mit dem Zauber des ersten Aufeinantertreffens, des vorsichtigen Herantastens und Erkundens, kann ein Sequel nicht mehr punkten. Der Reiz des Unbekannten, die Neugier eine fremde Welt zu betreten und zu ertasten, was eigentlich passiert wenn man hier mal an einem Knöpfchen dreht oder hier mal auf diese blinkende Ding am Robodino schießt… Spoiler: Er wird nicht glücklich darüber sein. Diesen Preis muss jeder Nachfolger zahlen, der sich auf gewohntem Terrain begibt. 

Nein, das Problem ist also nicht die Geschichte, sondern dass die Spielwelt mit ihren Besonderheiten uns Spieler*innen kaum noch überraschen kann. Guerrilla Games haben dann etwas eigentlich sehr Kluges getan: Sie haben die bestehende Welt, ihre Eigenheiten, die Spielmechaniken, Charaktere, Animationen und den Sound genommen und ihnen jeden Grobschliff rausprogrammiert. Ecken und Kanten sucht man hier vergebens, das Spiel ist polierter als der – vermutlich –  UEFA CUP Pokal. 

Forbidden West driftet in Postkarten-Kitschromantik ab

Das führt zu dem leicht absurden Kritikpunkt: Horizon ist einfach zu schön! Texturen, Farben, Figuren-, Welt- und Kreaturendesign sind atemberaubend und daraus resultiert die wirkliche Dissonanz: Keine ludonarrative bliblubb, sondern eine auf dem Weltenbau basierende. Denn die Pest, die eigentlich unseren Planet mit Tod und Verderben überziehen soll, ist echt wahnsinnig hübsch! Auch diese tödlichen, heimtückischen Maschinen, sind allesamt sehr, sehr schön. Die Pest taucht die Erde in feuriges Rot, gekleidet in symmetrische Blätter. Die Maschinen, im wahrsten Sinne Reiter der Apokalypse: leuchten blau und rot und gelb. Bombe! Die Sonne steht günstig, der Tod ist ästhetisch, erstmal Screenshot machen.

Dass, wie Kotallo sagte, die Wunde nicht heilt, was Umweltzerstörung, Ausbeutung und Kriege der Erde gebracht haben, das lässt sich im Verbotenen Westen nur sehr schwer nachvollziehen. Die Ruinen der Stadt San Francisco werden das Schönste sein, das ihr jemals in einem Spiel zu sehen bekommen habt. Wenn die Post-Apokalypse so eine Aussicht provoziert, count me in. 

Horizon sieht sich so seinem Widerspruch gegenüber: es driftet in Postkartenkitschromantik ab und wird dadurch einfach nicht cool genug. Als Beispiel muss jetzt Elden Ring herhalten. Dark’n’griddy Superdark Fantasy: Cool. Türkis, rot, grün und Sandstrand: Uncool. Ganz einfach. Das traurige Zwischenfazit: Die Schönheit des Spiels steht seiner eigenen Glaubwürdigkeit im Weg. Und dadurch vielleicht auch den Verkäufen an die vermeintlich coole Hardcore-Gamerschaft.

Wie schön willst du sein? Horizon: Ja! (Bild: Petri Levälahti)

Diese Action! Die Nebenquests!

Kommen wir endlich zu all den Gründen, weshalb Horizon Forbidden West dennoch Amors Pfeil tief in mein Herz gerammt hat. Eine sehr schwierige Aufgabe, denn am liebsten möchte ich alle Leser*innen an die Hand nehmen und sie das Wunderland nur kurz durch meine Augen sehen lassen. Ich wünschte, ich könnte nur einen Hauch meiner Begeisterung weitergeben. Die Fahrt mit Horizon-Tours möchte ich so schnell nicht mehr beenden. Ich stehe irgendwo zwischen Utah und San Francisco und komme aus dem Staunen nicht mehr raus. So viele Sehenswürdigkeiten wie hier bekomme ich sonst nirgends und muss dafür nicht mal vor die Tür. Nach 60 Stunden Spielzeit habe ich immer noch nicht genug!

Nebenquests haben eine supergute Belohnung: Fertigkeitspunkte!

Was macht es also richtig gut? Zum Beispiel die Nebenquests. Wer kennt es nicht: Stadt betreten und alle Ausrufezeichen abklappern. Doch Moment, es gibt hier nur zwei oder drei Ausrufezeichen? In dem nächsten kleinen Dorf gar keins? Bis Level 17 hatte ich sieben Nebenquests absolviert, obwohl ich sie alle einsammelte und sehr gründlich vorging. Wohlgemerkt: Nebenquests. Denn Horizon bietet ein übersichtliches Questlog, das mich alle verschiedenen Aufgabentypen bequem verwalten lässt und keine Sorge, mit sonstigen Aufträgen kann ich es später noch zuballern. Aber die eigentlichen Nebenquests sind fast durchgängig gut erzählt, schalten Tutorial-Missionen frei und haben eine supergute Belohnung: Fertigkeitspunkte! Diese kann ich in einen der sechs Talentbäume investieren. Endlich mal eine Belohnung, die wirklich interessiert und nicht die hunderste Waffe X oder das tausendste random Item Y. On Top eröffnet eine Nebenquest den Zugang zu einer der phantastischsten Waffen im gesamten Spiel: Den Stachelwerfer. 

Abschnitt über eine Waffe – Whas?

Der Stachelwerfer… Ich möchte nie wieder eine andere Waffe in einem Spiel auf mittlere Distanz nutzen müssen. Es gibt sie in verschiedenen Varianten, aber die Version mit Sprengstacheln lässt den Gegner nach kurzer Zeit in alle Komponenten zerspratzen. Nichts zerspratzt schöner als ein ausgewachsener Brüllrücken! Das Vibrieren des Controllers zwischen meinen Fingern, das Abpassen der Distanz, wenn die Lanze trifft, ich in Deckung hechte und es dann einfach Wumms macht: Actionmomente, so geil und perfide, dass selbst einem Michael Bay das Wasser im Munde zusammenlaufen würde. Ein Horizon ohne Stachelwerfer wäre denkbar, aber Unfug. 

Keine Angst, ich will nur spielen. (Bild: Petri Levälahti)

Exotik trifft Tierdokumentation

Warum die Kämpfe so gekonnt von der Hand gehen, hat auch mit dem Weltendesign zu tun. Denn viele Sci-Fi-Spiele stolpern über ihre miserable Lesbarkeit von Figuren und Gegnern. Ob das Geschöpf mit den grünen Kulleraugen, das knuffige Glucksgeräusche von sich gibt, wirklich so lieb ist, spüre ich erst durch ausprobieren. Das bedeutet, in der Regel betrete ich eine Welt, von der ich keine Ahnung habe und meine Sinneseindrücke können an wenig Bekanntes anknüpfen. Häufig ist das unbefriedigend. Doch Horizon vereint das beste aus beiden Welten: Das Neue und Aufregende der unbekannten Funktion, die am nächsten Robo-Dino klebt mit den wohlvertrauten Mustern unserer heimischen Tierwelt. Ein Beispiel: Vor mir steht eine riesige, leuchtende Roboter-Schildkröte voller Drähte, Kabel und wenn ich Pech habe, mit einem Plasmaraketenwerfer zwischen den Hüften ausgestattet. Instinktiv werfe ich all mein Wissen aus dem Selbstverteidigungskurs von Udos Kickboxstudio in den Ring: Erstmal voll auf die Weichteile zielen! Das Vieh hat einen dicken Panzer, also sitzen die Weichteile garantiert darunter. Zudem wird es langsam und ungelenk sein und es schaut nur die Schnauze und die Pfoten heraus. Oder Krallen. Niemand weiß, wie das bei Robodinosauriern eigentlich heißt. Und genau so funktioniert die Welt in Horizon: Wenn es springt wie ein Känguru, mach dich vor Tritten gefasst, wenn es aussieht wie ein Gnu, wird es vielleicht zu seiner Herde flüchten. Exakt diese Muster machen das Durchstreifen in Horizon aufregend und heimelig zugleich. Exotik ist geil, aber Exotik, die ich einschätzen und einordnen kann, ist halt noch geiler. 

Schleichen, zielen, Dirty Tricks

Quantitätsmatrix

Eine der hervorragendsten Designentscheidungen ist es, dass diese Killerroboter nicht an jeder Ecke lauern. Meistens hausen sie in abgesteckten Weidezonen und lassen mich in Ruhe meine Angriffe planen. Es mündet in folgendem Gameplayloop: Fokus an, das verbesserte Scannermenü anwerfen, Schwachstellen identifizieren, die passende Munition auswählen, Falle stellen, im hohen Gras anschleichen und erstmal darauf zielen, wo es Computerspielgegner in der Regel am meisten weh tut: Dort, wo es leuchtet. DAS ist befriedigend! Als eine, die Kämpfe in der Regel mehr als notwendiges Übel denn Freude empfindet, weil ich am Controller ungefähr so geschickt bin wie eine Schildkröte beim Tetris spielen, könnte ich nicht glücklicher sein. Jeder Kampf macht Spaß, ist herausfordernd, zwingt mich, meine Umgebung zu nutzen, Fässer zum explodieren zu bringen, Vorsprünge zu besetzen, Steine auf den Gegner rollen zu lassen und mein gesamtes Waffenarsenal in meine schwitzigen Hände zu nehmen. Ich. liebe. es. Besser als die Kämpfe ist allerhöchstens der Fotomodus.

Aloy: Female Intellectual Power Fantasy

Nicht genug, dass die Welt dank spoiler spoiler wieder vor der Zerstörung steht, nein, es gibt jetzt auch einen neuen Boss in der Stadt: Aloy! Aloy hat in Forbidden West endlich ihr eigenes Wesen entdeckt. Wäre es nicht herablassend, könne man fast sagen, Aloy sei erwachsen geworden. Gäbe es eine Art umgekehrten Bechdel-Spiele-Test für Männer, der sowohl das männliche Vorhandensein als auch ihre Rolle zur Protagonistin hin abfragt, Horizon würde versagen! Die männlichen Figuren haben nur Daseinsberechtigung in ihrer Rolle als Aloys Unterstützer und stehen ihr bestenfalls einfach nicht im Weg herum. Die Handlung wird von Frauen vorangetrieben, die sich weder in An- noch Abwesenheit eines Mannes definieren. Aloy sind sie in der Regel einfach egal. Im Laufe des Spiels wird aus der unabhängigen, patzigen Einzelgängerin aber doch ein klein wenig der Teamgeist entlockt. “Bin nur auf der Durchreise” ist das Motto dieser von einer Mission getriebenen Frau. Sie hat jeden Respekt verloren, vor Autoritäten und bedingungsloser Verehrung. Denn ihre Mission ist nicht nur die Weltrettung mit roher Gewalt, auch das Verbreiten von Wissen hat sie sich zur Aufgabe gemacht. Sie führt einen offenen Kampf gegen Religionen, Aberglauben, trotz aller Gefahren wendet sie sich der Technik und dem Fortschritt zu. So kümmert sie sich zum Beispiel darum, einem Stamm das Wissen der “alten Welt” zu Landwirtschaft zu vermitteln. Eine Frau, die quasi im Vorbeigehen die Säkularisierung vorantreibt. Aber wenn sonst nichts hilft, nun, dann hilft eben doch der Speer.

Wir befinden uns im Landeanflug! Bitte bringen sie die Sitze in eine aufrechte Position und klappen sie die Tische hoch!

Aloy ist pragmatisch, fokussiert, ungeduldig, grumpy und sensibel. Bei einer Litanei über Götter oder Kriegsheldentum kann es vorkommen, dass sie die Augen rollt oder verächtlich schnaubt. Aloy hat halt keine Zeit für so einen Mumpitz! Fakten statt Fake-News. Sie hat Launen, wie so ein echter Mensch. Verrückt. Und ist somit die ultimative Female Power Fantasy mit intellektuellem Unterbau. Sie ist nicht nur stark, sondern auch schlau. Der Verstand ist schärfer als das Schwert? Aloy weiß, wann welche Waffe angebracht ist. Das ließe sich belächeln, wäre es nicht eine der ersten Protagonistinnen, die sich weder in ihrem Verhältnis zum Mann/Vater/Bruder definiert oder ihrer, naja, Fuckability. Sorry, Lara. 

Endlich weiß ich, wie sich männliche Spieler vermutlich seit Jahren fühlen: Empowered! Es macht grotesk viel Spaß die Welt zu retten, Annäherungsversuche links liegen zu lassen und gelegentlich Typen in Arenakämpfen zu zeigen, wer hier das Baströckchen an hat! Aloy ist die polygongewordene Rettungsboje im Meer aus vor Eindimensionalität triefender AAA-Protagonistinnen. Danke dafür!

So eine Figur zu etablieren und in das neue Vorzeigespiel der technischen Realisierbarkeiten der PlayStation 5 einzubauen, dazu gehört auch heute noch Mut. Nicht zuletzt, weil sich Guerrilla Games massiver Kritik wegen Aloys vermeintlich fehlender Normschönheit ausgesetzt sah. Ich attestiere Gamedirector Mathijs de Jonge daher Durchsetzungsvermögen von alloyschem Ausmaß. Hübsch ist Aloy wie ihr Motion Capture Vorbild Schauspielerin Hannah Hoekstra natürlich dennoch. Ein süßes rotes Näschen, kampferprobte rote Wangen und Haare voller Sprungkraft. Ohgott diese Sprungkraft.

Aloy + The Machine: You’ve got the love.

Moment, eine Review aus dem Jahr 2022 ohne den Begriff “Vertikalität” fallen zu lassen? Keine Sorge, ich bin nicht kaputt. Ich lasse den Begriff hier nur in der Metavariante stehen, denn das Erklimmen von Bergen oder Abtauchen in Unterwasserregionen mit einem Begriff zu adeln, der vermuten lässt, man habe zum ersten Mal begriffen, wofür die 3 in 3D steht, käme mir nicht in den Sinn. Aber ja, okay, selbstverständlich gibt es fantastische Bergwelten und nein, die sind, welch Überraschung, nicht flach. Im Grunde besteigt man Berge in Horizon aber nur, um mit Hilfe des neuen Gleitschirms wieder von ihnen hinabsegeln zu dürfen. Klettern ist im Gegensatz zum Vorgänger endlich fast überall möglich. Die dafür vorgesehen Interaktionspunkte wurden großzügig über die Lande gestreut.

Kletterpunkt wäre hier die falsche Vokabel.

Klar, manchmal wird es dadurch recht absurd. Habe ich zuvor noch einen Berg im Computerspieleäquivalent eines K2s erfolgreich erklommen und stehe kurz darauf mit Aloy ratlos vor einer einfachen Backsteinmauer. Hm, kann man sich höchstens noch mit dem Anblick der geilen Mauer trösten. Oder Aloys hüpfenden Haaren. 

Noch keine Teaserbox ausgewählt

Neben teils nervigen, weil willkürlichen Kletterpassagen gibt es insbesondere noch ein sehr großes Problem, das hier allen Lobes zum Trotz Erwähnung finden muss: Der Beginn des Spiels könnte nicht schlimmer sein. Selten habe ich ein ätzenderes und schlechter erzähltes und langweiligeres Tutorial gespielt: Dröge Dialoge, holpriger Einstieg und nervige Uncharted-Look-A-Like-Passagen und das Ganze über sechs verdammte Stunden! Meine Enttäuschung war gigantisch. Auch nach diesem Einstieg ist die Open World immer noch nicht “open”, sondern noch ziemlich “gated”. Also mehr Typ “Florida” Rentnercommunity statt California Edge Lord. Es benötigt eine Weile, bis sich die richtige Welt öffnet und diese Durststrecke gilt es zu überwinden. Auch der Schmalz- und Trief-Faktor ist in den ersten Stunden besonders anstößig. Aber wie würden Elden Ring Fans sagen? Durchhalten! Arschbacken zusammenkneifen, nicht aufgeben, erneut versuchen! 

Kotallos eingangs erwähnte “Die Wunde heilt nie”-Metapher schmerzt mich diese Tage besonders. Wie Unglück und Leid über Generationen weitergetragen und durch Unrecht hervorgerufene Rachgefühle auch noch an die Ur-Ur-Urenkel weitergegeben werden, beschäftigt. Die Spätfolgen von Gier, Hybris und Krieg erlebt man in Horizon zwar auf dem Niveau einer Pro7-Serie, was es aber nicht weniger wertvoll macht, durchdacht zu werden.

Wenn Horizon Forbidden West der Wein des Wahnsinn ist, fülle meinen Becher.

Fazit

Punkte: 90

Jagoda Froer

Hat es sich versehentlich zur Lebensaufgabe gemacht, in Männerdomänen herumzupfuschen.

Wer den holprigen Einstieg durchsteht, den erwartet ein Monster-Melancholie-Actionfest auf Maximalniveau. Es zischt, spratzt, weht, wütend und funkelt in Flora und Fauna. Hach…, Weltuntergang, schöner könnte ich mir dich nicht vorstellen. Für Fans von Sonnenuntergängen, feinjustierbaren Schwierigkeitsgraden, Barrierefreiheit, Boston Dynamics, Schach und Ayahuasca.

Die WASTED-Redaktion vergibt außerdem den

Female Choice Award

Horizon Forbidden West

Die schönste Postapokalypse, die ihr hoffentlich nie erleben werdet.

Höhe in Disketten
204,8 m
Spieltiefe
45 bar
Ist das noch Indie?
15%
Gewalt
0,5 Doom
Eleganz
8,5
Metascore-Abweichung
+2

27 Kommentare


Kommentare

  1. image
    Hui!
    Nice Trophäe.

  2. Entschuldige Jagoda, dass ich deinen wirklich guten und unterhaltsamen Text (habe mich. bisher kaum mit Horizon beschäftigt,da die Gegner mich abgeturnt haben…weiss jetzt aber das es doch was für mich sein könnte und habe mehrmals gelacht beim lesen. Knaller) auf dieses Eingagszitat reduziere aber:

    Diesen Text würde ich sofort lesen, vor allem wenn er so geschrieben ist wie dieser hier.

  3. Stimmt alles genau so! Vor allem Aloy.

  4. Avatar for VfBFan VfBFan says:

    Ich habe jetzt nach dem Lesen des Artikels ein Problem.
    Wo gibt’s ne PS5 mit Dual Sense Controller zum normalen Preis?
    :disappointed_relieved:

    Muss jetzt erstmal meine „Geilheit“ auf das Spiel wieder auf ein normales Niveau bringen.
    Ich mach mal bei Suzerain weiter …

    PS: Wie war das mit Normschönheit? Aloy ist imho ja mal sowas von HOT!!! :kissing_heart:
    PPS: Die hat die Haare schön, wunderschön …

  5. Avatar for Quuck Quuck says:

    Sehr schöner Artikel, vielen Dank. Was mich schon am ersten Teil beeindruckt hat, ist, wie es Guerilla Games geschafft haben, eine junge und durchaus hübsche Frau zur Hauptfigur des Spiels zu machen, ohne dass sie dabei eine Playboy-Phantasie wie Lara Croft wird. Man sieht ihr gerne zu und findet sie meistens ganz sympathisch.
    Im zweiten Teil bin ich noch nicht sehr weit, sondern noch im bisschen doofen Intro. Ich hoffe nach diesem Artikel aber auf ein weit besseres Hauptspiel.

    P.S. sehr sehr schöne Haare. Bestimmt auch sehr sehr aufwendig in der Pflege

  6. Geil, was ein Text! :heart_eyes:
    Hat mich voll reingesogen.
    Einziges Problem: er ging plötzlich zu Ende :wink:

    Gefällt mir, dass nun Prädikate vergeben werden. Warte schon sehnsüchtig auf das erste mit der Entsprechung einer „Power-Gurke“ :grin:

    @Jagoda Ich habe mir aus deinem Review ungefähr zusammengereimt, weswegen dieses Spiel einen Female Choice Award erhält. Meine Frage mit ernsthaftem Interesse ist dazu: Hast du ein paar Worte zu den Hintergründen, wie das einzuordnen ist und auf welche Aspekte es genau Bezug nimmt?

  7. Toller Text! Auch wenn ich gestehen muss, dass es mir schon einen kleinen Stich ins Herz gegeben hatt, dass meine virtuellen Geschlechtsgenossen in HFW (offenbar) bestenfalls Beiwerk für die weibliche Protagonistin sind, und das bei @Jagoda eine - zumindest von mir so gelesene - gewisse Genugtuung hervorgerufen hat. Aber das ist vermutlich nur gerecht/richtig so, um irgendwann zu einer ausgewogenen und entspannten Diversität in Videospielen zu kommen.

  8. Avatar for Lyra Lyra says:

    Geiler Artikel, dafür zahlt man doch gern. Danke.

    Also mehr Typ “Florida” Rentnercimmunity statt California Edge Lord.

    Ist das ein Wortspiel das ich nicht verstehe, oder einfach nur ein Typo?

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