Ein Sommer im ewigen Eis

Spieletipps aus dem Sommerloch.

Alle zwei Wochen setzt sich Rainer Sigl an seine Tastatur und schreibt dir einen Brief. Ja, dir. Es geht um die großen, wichtigen, letzten Dinge: Sex, Tod, die Liebe, das Leben, den Sinn des Ganzen. Und um Videospiele. Große, kleine, teure, obskure, die Menschen, die sie machen, kritisieren, spielen und lieben. Kurzum: Es geht ans Eingemachte. „Brief und Sigl“ ist eine Depesche aus dem Ludoversum.

Wien, 15.07.2022 

Liebe Leserin, lieber Leser,

Dieser Brief fällt ein wenig anders aus als die vorigen, denn eigentlich bin ich auf Urlaub und deshalb sowohl milde gestimmt als auch ein wenig out-of-the-loop, genauso, wie es ja der Sinn des sommerlichen Verreisens ist. Deshalb: keine Rants, keine sarkastischen Analysen, keine Predigt und keine aktuellen Aufreger. Stattdessen: ein wenig sommerliche Inspiration, was man denn spielen soll. 

Also, kurz gesagt: Ich empfehl euch ein Spiel, das ihr jetzt gerade gut gebrauchen könnt. Bereit?

Es gibt nichts Besseres, als im Sommer abends in einer hoffentlich gut quergelüfteten Wohnung der Hitze beim Verlassen der Räumlichkeiten zuzusehen. Ein wenig schneller geht es, wenn es einen dabei zumindest ein bisschen fröstelt. Ganz wunderbar schafft das The Long Dark, denn das ist immer noch und vielleicht für immer das Spiel mit dem einsamsten, schönsten und erbarmungslosesten Winter der Welt. 

Ich hab ihm damals schon einen eher literarischen Text gewidmet, der diese Faszination ein bisschen rüberzubringen versucht, beim Wiederanspielen kürzlich ist mir klargeworden, was für ein unglaubliches Ausnahmespiel in den fast neun Jahren seiner Existenz daraus geworden ist: Erst letzten Herbst gab es die vierte Episode der Kampagne nachgereicht, und das, ohne dass die kanadischen Entwickler einen Cent mehr dafür verlangt hätten. The Long Dark war 2013 ein früher Kickstarter-Erfolg, erschienen ist das Spiel als Alpha-Version 2014, final war es 2017.

Oder eigentlich auch nicht, denn die epische, fünf Episoden umspannende  Single-Player-Kampagne namens „Wintermute“ ist auch heute, 2022, noch nicht vollständig.  Heute würde man dieses Spiel als Early Access vermarkten, vielleicht könnte man es auch irgendwie als Indie-Version eines Service-Games argumentieren, an dem halt immer weitergebaut wird, auch wenn schon gespielt werden kann.

Tatsache ist: Seit etwa 2014  kann man sich in der „Stillen Apokalypse“ der kanadischen Eiswüste verlieren, in einer Single-Player-Wildnis, in der Überleben alles ist. Eigentlich, so habe ich es immer gesehen, ist der Survival-Sandbox-Modus das Herzstück dieses Spiels, in dem es ganz ohne Story nur ums Überleben geht; darum, nicht zu erfrieren, nicht von Wölfen gefressen zu werden, genug zu essen zu finden, Waffen und Holz zu horten, um in der gleichgültigen Polarnacht nicht draufzugehen. 

Nein, hier gibt’s keine Häuser oder Hütten zu bauen, gecraftet wird höchstens ein wenig primitives Werkzeug. Es gibt auch keine Zombies, keine Monster, abgesehen von Wölfen und Bären, und auch keine anderen Menschen. Stattdessen insgesamt 55 Quadratkilometer einer einsamen Wildnis und ein paar letzte Resten menschlicher Zivilisation, verlassen, leer. Ein bisschen ist das wie in Marlen Haushofers Roman „Die Wand“, verfilmt  2012

Als Spiel, das irgendwie zur Survival-Sandbox-Schublade gehört, ist The Long Dark nach wie vor ziemlich besonders. Es gibt hier nichts, was manisch gesammelt werden muss, keine Ziele, die sich durch die üblichen Videospielroutinen erreichen lassen. Hier farmt man keine Mobs, grindet keine Rohstoffe und baut keine fantastischen Ritterburgen oder Eiffeltürme nach. Im Gegenteil: Auch wenn man von Tag zu Tag überlebt, die Wahrscheinlichkeit, in dieser Spielwelt irgendwann ein völlig autarkes, selbstversorgtes Leben führen zu können. ist ziemlich klein; das hat The Long Dark mit der düsteren Zombie-Sandbox Project Zomboid gemeinsam, in der das Spielziel „nur“ das möglichst lange Überleben vor dem unausweichlichen Tod ist.

Rainer Sigl

Schreibt und spricht seit 2005 (nicht nur) über Videospiele. Lebt in Wien.

Was The Long Dark für mich so speziell macht, ist seine Ruhe. Immer wieder zwingt mich das Spiel, auf etwas zu warten: darauf, dass der Schnee im Topf auf dem Herd schmilzt; darauf, dass das Wasser endlich abgekocht ist. Darauf, dass die im Flur aufgelegten Wolfsfelle getrocknet sind. Darauf, dass der Schneesturm aufhört, der seit drei Tagen um meine Hütte tobt. 

Zugleich aber auch, wahlweise: Thriller. Die Kampagne hat all das, was der Survival-Modus nicht bietet. NPCs, eine Handlung, Missionen Aufgaben. Die Challenges werfen mich direkt in haarsträubende Situationen; manche davon, etwa die Flucht vor dem übernatürlichen, unsichtbaren Geist im Challenge-Modus „Escape the Darkwalker“, habe ich mich noch nicht einmal starten getraut. Der wurde übrigens erst im Dezember 2020 permanent dem Spiel hinzugefügt; zuvor hatte es diese aufreibende Herausforderung nur als temporäres Halloween-Event  gegeben.

Eigentlich unglaublich, wie diese ständige, konstante Arbeit und Erweiterung dieses gar nicht so  kleinen Spiels funktioniert, ausschließlich finanziert durch neue KäuferInnen, die diesem Langzeitprojekt laufend frisches Geld zuführen. Vielleicht ist es ein Kanada-Ding, vielleicht hat es mit der dort herrschenden Förderkultur zu tun, oder mit der Menschenfreundlichkeit, die man den Kanadiern sonst nachsagt? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur eins: Keine Mikrotransaktionen, nicht einmal DLCs finanzieren dieses Spiel, das für mich zumindest eines der ganz, ganz großen Indie-Kunstwerke des Jahrzehnts ist. Auch wenn du sonst keine Survivalspiele magst: The Long Dark hat garantiert etwas auch für dich parat – und wenn es nur ein Schneespaziergang durch eine einzigartig atmosphärische Winterlandschaft sein sollte.

Denn, wie eingangs gesagt: Der Sommer kann noch so heiß werden, die Luft in deiner Dachgeschoßwohnung noch so stillstehen, wenn der virtuelle Blizzard durch die finstere Nacht in The Long Dark brüllt, wird dir garantiert etwas kühler. 

Ja, dieser Newsletter empfiehlt dir jetzt alte Spiele. Das muss dieses Sommerloch sein, von dem immer alle reden. In dem Fall ist es eines im dicken Eis eines zugefrorenen Sees. Los, geh eine Runde fischen. Ich weiß: Du willst es doch auch.

Dein

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