Wir sind mit Spielen groß geworden. Jetzt werden unsere Kinder mit uns groß. Bleibt zwischen Windelwechseln, Krabbelgruppe und Breifütterung überhaupt Zeit zum Spielen? Was geben Games uns mit auf dem Weg mit Nachwuchs? Geben wir unsere Liebe zu virtuellen Welten weiter? Hier gibt es Monat für Monat eine Heldinnen-Reise von der Geburt bis zum ersten eigenen Griff zum Controller.

Der Flieger wackelt und brummt. Langsam kommt er ins Rollen, wird immer schneller. Endlich heben wir ab. Auf meinem Schoß wackelt und brummt meine Tochter. Sie, gerade mal anderthalb Jahre alt, klebt an der Scheibe, sieht, wie wir die Wolkendecke durchbrechen. Bis oben nur noch blau ist und unten weiß. Unsere große Reise beginnt. Im Frühjahr 2019 brechen wir zu dritt auf, um gemeinsam das Draußen zu erkunden.

Nächster Halt: Blütenmeer.

 Der ersten Elternzeit nach ihrer Geburt, in der wir uns in unserer Wohnung vergraben hatten, folgt jetzt eine zweite. Eine Zeit, in der wir uns aus unserer Komfortzone herauswagen wollen in die Welt. Wir haben Jahre hierfür gespart. Jetzt ist da dieses unwirkliche Gefühl, dass es endlich soweit ist. Im Koffer Bodys, Windeln, eine Trage und eine Nintendo Switch schweben wir hoch am Himmel in Richtung Japan, wo sich langsam die Knospen der Kirschbäume öffnen, um alles mit Blüten zu überschütten. Ob sie die Liebe zu diesem Land, seinen Menschen, seinem Essen und seiner Kultur irgendwann teilen wird? Ob ihr irgendwelche Erinnerungsfetzen daran bleiben werden, ein Echo tief unten im Gedächtnis? Oder machen wir das hier am Ende nur für uns? 

Unser großes Glück: Wir haben Nachtflüge gewählt, nach kurzer Zeit fällt sie in einen tiefen Schlaf. Als wir am Mittag in Kyoto ankommen und unsere erste Unterkunft beziehen, sind wir zwar alle drei etwas müde, aber nicht zerstört. Wir wandern durch die Straßen der Stadt, an bezaubernden kleinen Häusern und Tempeln vorbei. Große Augen schauen aus dem kleinen Gesicht in der Trage vor meinem Bauch. Saugen jedes Detail ein. Die prächtigen Kimonos der Geishas, die bunt leuchtenden Neonreklamen der Geschäfte, die kleinen Hirsche, die durch die Straßen der Stadt Nara spazieren, die Wellen weißer Blüten, die in den Zweigen der Bäume wogen. So viele Eindrücke, dass sie mich fast überschwemmen. Wie geht es ihr?

Im Schein der Neonlichter.

 Unsere Einzimmer-Unterkunft hat zwei Betten, eine kleine Kochnische und einen winzigen Esstisch. Mit unserem Gepäck ist kaum Platz für uns alle drei. Trotzdem ist es mehr als genug. Abends, wenn unsere Tochter schläft, liegen wir in den Betten und ziehen die Decke über den Kopf. Teresa liest auf ihrem e-Reader. Ich spiele Switch. Während aus dem anderen Bett sanftes Atmen und Murmeln klingt, brutzelt und zischt es in meinem anderen Ohr aus dem Kopfhörer, den ich in das Handheld gestöpselt habe. 

Die Neonlichter des Tages gehen über in die Neonlichter der Nacht. Als ob mein Gehirn noch nicht genug gehabt hätte. Immer noch mehr, bis ich endlich müde genug bin, um auch einzuschlafen. Die ersten Abende vertreibe ich mir noch mit der bunten Bonbon-Suchtmaschine „Diablo 3“. Bis wir schließlich mit dem Shinkansen nach Tokyo fahren und ich mich am Abend auf die Suche nach neuem portablem Futter machen kann. 

Digitales Erbe.

Japanische Videospiele haben mich schon als Kind fasziniert. Auf Gameboy und Super Nintendo habe ich Mario und Link begleitet, später waren es die Rollenspiele aus der „Dragon Quest“-Serie, der Horror aus „Silent Hill“ und Resident Evil“ und der wunderbar verquere Quatsch in „Metal Gear“. Heute sind es vor allem die Spiele des Entwicklers From Software, die mich mit ihren enigmatischen Spielmechaniken und dem Design ihrer Welten fesseln. Wird meine Tochter diese Liebe teilen? Oder bin ich einfach nur wie jede Mutter und jeder Vater, die ihren Kindern die eigene vergangene Kindheit überstülpen wollen, in der Hoffnung, an diesen Punkt des Lebens, der eigenen Unbeschwertheit und des eigenen Entdeckens zurückzureisen?

Unsere Unterkunft in Shibuya liegt in einer kleinen Seitenstraße, die den Lärm des pulsierenden Viertels fast verschluckt. Kleine Häuschen drängen sich dicht an dicht, eine Straße von unserer Türe entfernt tauchen wir zwischen Hochhäusern und Blade-Runner-Anzeigentafeln ins Chaos ein – um uns am anderen Ende in einem der Parks in die Stille spülen zu lassen. 

 Abends gehen wir im kleinen Izakaya, einer typischen japanischen Kneipe, am Ende der Straße Yakitori essen, oder wir schlürfen zu dritt glücklich heiße Ramen in unserem Lieblingsrestaurant in Akasaka. Die Menschen begegnen uns, besonders unserer Tochter, mit großer Herzlichkeit. Im Kaufhaus spielt sie mit anderen Kindern, als wir uns mit unserem Freund Kuma zum Shabu-Shabu-Essen treffen, sitzt sie auf seinem Schoß und liest mit ihm ihre japanischen Kinderbücher, die wir tagsüber in einem der unzähligen wunderbaren Geschäfte gefunden haben. Der gigantischen Plüschhase, den er ihr zum Abschied schenkt und den sie Kumi nennt, liegt abends neben ihr in dem kleinen Bett. Seine überdimensionierten Ohren lappen sanft über ihr Kopfkissen. Auf dem Tisch in der kleinen Küche liegen die Spiele, die ich heute gekauft habe neben dem Artbook zu „No More Heroes“, das mir Kuma aus seinem Studio Grasshopper mitgebracht hat. Während ich unter der Decke auf den Bildschirm meiner Switch starre, dringen von draußen noch die Geräusche Tokyos in mein freies Ohr. 

 Wie sehr wünsche ich mir, dass meine Held:innen auch ihre werden? Vielleicht werden sie es ja einmal sein. Und dann nicht mehr. Vielleicht ist es ja auch besser, wenn sie irgendwann ihre eigenen findet? Und sie dann mit mir teilt? Den Gedanken mag ich eigentlich lieber. Ich schalte den Bildschirm aus und schlafe beim Klang der Sirenen ein.

Christian Neeb Freier Autor

CN

War früher Redakteur beim GEE Magazin, bei der Fernsehsendung Reload und beim Spiegel. Heute wechselt er Windeln, kocht Nudeln mit roter Soße, liest Geschichten vor und schreibt nebenbei als freier Autor.

9 Kommentare


Kommentare

  1. Avatar for Photan Photan says:

    Schöne Serie, freue mich immer wieder, wenn eine neue Episode erscheint!

  2. Liebste Kolumne :heart: Fühle mich nach wie vor von jeder neuen Episode aufs Neue völlig abgeholt!

  3. Avatar for Bonito Bonito says:

    Und vor allem macht diese Folge ein interessantes Fass auf: Japan mit Kindern! Ich war vor vielen Jahren mal für zwei Wochen in Tokyo und würde wahnsinnig gern mal wieder nach Japan, vielleicht noch mal ein bisschen mehr sehen und vor allem endlich mal das ganze Zeug futtern, das man sich als Student nicht leisten konnte (zwei Wochen herrliche Düfte überall aber gerade genug Geld für ein paar Fertignudeln. Authentisch, aber ich glaube da geht noch was…)
    Aber was macht man mit den Kindern? Herzlich, sagst du? Auch wenn die ganze Familie aus unerzogenen Gaijin besteht, die kein wort japanisch sprechen? Oder hat man mit Kindern noch mehr Narrenfreiheit als ohnehin schon?

  4. Endlich wieder Ready Parent One.

  5. Würde mich tatsächlich auch interessieren, kann Christian Neeb Japanisch?

    Ich habe Mal knapp drei Monate in Japan gearbeitet, ohne die Sprache zu können, und empfand es ehrlich gesagt als die Hölle.

  6. Avatar for cneeb cneeb says:

    Hi Brainbug, ich spreche ein kleines Bisschen Alltagsjapanisch. Das macht die Verständigung vor Ort in jedem Fall einfacher. Und es führt in meiner Erfahrung auch dazu, dass die Menschen uns sehr offen aufgenommen haben.

  7. Avatar for cneeb cneeb says:

    Hi Bonito, mit einem sehr kleinen Kind war das eigentlich, bis auf ein paar Ausnahmen, nicht anders, als bei unseren Besuchen zu zweit. (Gut, in einer Arcade waren wir das letzte Mal dann eben nicht.) Wir haben uns Tokyo und andere Städte erlaufen wie früher auch, sie war eben in der Trage mit dabei.

    Jetzt wäre es bestimmt etwas anders, aber Japan hat ja auch neben den Städten wunderbare Orte, die man auch mit etwas größeren Kindern erkunden kann. Traumhafte Wanderwege, wunderbare Strände und das Ghibli-Museum bzw. den neuen Park. Spielplätze gab es auch immer am Wegesrand.

  8. Avatar for cneeb cneeb says:

    Das freut mich wirklich sehr!

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